Alumni-Netzwerk uni‘alumni 2018 13 zum Beispiel einen Lesesaal, in dem man Bücher, Zeitzeugenberichte und Archivalien einsehen kann. Darunter sind etwa Briefe und Tagebücher von Vertrie- benen. Außerdem werden wir regelmäßig neue Sonderausstellungen präsentieren und Veranstaltungen organisieren. Mir ist es wichtig, dass der Horizont über Deutschland hinausgeht. Warum nicht eine Ausstellung über die Teilung Indiens 1947, die Fluchtbewegungen aus Syrien oder ethnische Säuberungen heutzutage? Sie beschäftigen sich mit Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen ihre Heimat verlassen müssen. Was bedeutet Ihnen der Begriff – oder ist er in postmodernen Zeiten ohnehin passé? Zuhause. Überhaupt wäre ich ohne diese Stadt ein anderer Mensch. Dabei war es Zufall, dass ich dort gelandet bin. Sie haben ja zunächst ein Studium der Rechtswissenschaft in Berlin begonnen. Ein Semester lang, aber das ist geschei- tert. Das Fach lag mir nicht, und dieses riesige, winterliche, geteilte Berlin der 1980er Jahre hat mich einfach überfordert. Als ich Freundinnen und Freunde in Freiburg besuchte, nahm mich die Stadt schnell gefangen – mit dem tollen Wet- ter, der herrlichen Architektur und dem wunderschönen Schwarzwald. Manch- mal vermisse ich hier in Berlin diese lieblichen Höhenzüge am Horizont. Nein, überhaupt nicht. Ich würde aber zwi- schen Heimat und Zuhause unterscheiden. Heimat ist für mich Reinbek bei Hamburg, mein Geburtsort. Das hat sicherlich auch viel damit zu tun, dass dort meine Eltern leben und meine Großeltern begraben sind. Und dann gibt es das Zuhause: Berlin, wo ich seit acht Jahren lebe und arbeite. Lange Zeit war auch Freiburg mein Welche Debatten prägten Ihre Studienzeit in Freiburg? Ich erinnere mich noch gut an den Histo- rikerstreit über die Bedeutung des Holo- caust und an die Kontroverse um die Wehrmachtsausstellung, und dann gab es natürlich die Wiedervereinigung. Die habe ich sozusagen im südwestlichsten Sonnen- winkel Deutschlands im Fernsehen verfolgt, aber ich bin nicht nach Berlin gefahren, um mir einen Mauerstein zu sichern. Ich muss gestehen, dass ich bei den Debatten nicht an vorderster Front mitgemischt habe. Was wissen Sie heute über das Ausstellungmachen, was Sie damals nicht ahnten? Ich würde es anders ausdrücken: Ich habe früher unterschätzt, was Geschichtswis- senschaft bewirken kann, wenn man sie in den öffentlichen Raum bringt. Ausstel- lungen vermitteln Geschichten, die das Bewusstsein von Menschen prägen, und zwar viel stärker, als das wissenschaftli- che Arbeiten je leisten könnten. Der damit verbundenen Verantwortung bin ich mir sehr bewusst. Ich versuche bei jeder Aus- stellung, die Relevanz des großen Ganzen deutlich zu machen, und zwar für Men- schen mit verschiedenen Bildungshinter- gründen, Blickwinkeln und Sensibilitäten. Gleichzeitig muss ich mit dem Wissen le- ben, dass ich nie eine Geschichte voll und ganz zu Ende erzählen kann – egal, ob auf 500 oder 5.000 Quadratmetern. MEIN SCHEIN: JESS JOCHIMSEN Graffito mit Strichpunkt Lange war ich felsenfest davon über- zeugt, der unnützeste Schein, den ich je an der Universität erworben habe, war jener im Proseminar mit dem Titel „Über die Verwendung des Semikolons in der Philosophie“. Nie im Leben werde ich das brauchen, dachte ich, während ich mir auf der (für den Schein obligatorischen) Begehung des Martin-Heidegger-Rundweges in Todtnauberg die Füße wund lief und mir durch die unbedachte Äußerung „Wandern ist die Fortsetzung der Heimat- vertreibung mit anderen Mitteln“ einen nicht enden wollenden Privatvortrag des Professors einhandelte. „Sie werden noch an mich denken“, schloss er seine Tirade, „an mich und an den Strichpunkt!“ Er sollte Recht behalten, denn Jahre später entdeckte ich in Hannover, der Hochburg des Hochdeutschen, an einer Hauswand folgendes Graffito: „Die Revo- lution ist großartig; alles andere ist Quark.“ Weil Rosa Luxemburg (der dieser Satz zugeschrieben wird) seinerzeit im Seminar nicht behandelt wurde, wusste ich nicht, wieviel Wert sie auf die Verwendung des Strichpunktes gelegt hat, aber ich konnte nicht umhin, mir die nächtliche Sprühaktion vorzustellen. Ob die jugendlichen Spraye- rinnen und Sprayer das zuvor ausdisku- tiert hatten? „Voll krass, der Spruch, aber gehört da nicht ’n Komma hin?“ – „Ne, Alter, mit Semikolon kommt es viel fetter!“ Mal abgesehen davon, dass in Hanno- ver wohl noch nicht mal eine Revolution helfen würde ... gedacht habe ich dies: Ein Graffito mit Strichpunkt ist das Ende! Das Denken ist im Leben angekommen. Jess Jochimsen, geboren 1970 in München, lebt als Autor und Kabarettist in Freiburg. Zuletzt erschien sein Roman „Abschluss- ball“. Von 1991 bis 1997 studierte er Germa- nistik, Politikwissenschaft und Philosophie an der Albert-Ludwigs-universität. Foto: Britt Schilling