Die Zeitung der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg www.leben.uni-freiburg.de von Claudia Füßler In dem langen Haus mit Lehmbo- den und Brunnen hinten im Hof hat zunächst ein Fleischer gelebt. Später zog ein Töpfer ein. Im hin- teren Teil des Gebäudes brannte er Krüge und Schalen, die er an der schmalen Giebelseite, die zur Straße zeigte, zum Verkauf anbot. Zwei Generationen später konnten Bewohnerinnen und Bewohner der Siedlung im selben Haus Eisenwaren kaufen. So könnte es sich vor gut 2.000 Jahren im Lahrer Stadtteil Dinglingen ab- gespielt haben. Viel- leicht war es aber auch ganz anders. Das herauszu- finden ist die Aufgabe von Alexander Heising. Der Professor für Provinzialrömische Archäo- logie an der Universität Freiburg wird in den nächsten Jahren mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Kolleginnen und Kollegen die Fun- de in Lahr-Dinglingen auswerten – eine der größten Flächengrabun- gen in einer römischen Siedlung in Baden-Württemberg. Sie ist auch deshalb so interessant, weil es sich um eine Zivilsiedlung handelt. „Wenn die Leute Römer hören, den- ken sie sofort an Soldaten. Dabei waren die meisten Römer Zivilis- ten“, sagt Heising. Sie haben in Lahr-Dinglingen im 2. Jahrhundert nach Christus in Holzhäusern ge- lebt, geliebt, Handwerk und Handel betrieben. Den damaligen Alltag der Menschen möchte Heising aufarbeiten und wieder aufleben lassen. Für die Landesgartenschau 2018 soll ein Haus aus der Rö- merzeit originalgetreu wiederauf- gebaut werden. Ein so genanntes Streifenhaus, das 50 bis 60 Meter lang ist und dessen wenige Meter breite Giebelseite zur Straße hin ausgerichtet ist. „Wir hoffen, dass wir aus den Funden einen Bauplan erstellen können. Dann werden wir die Materialien verwenden, die die Römer benutzt haben: Holz, Lehm und Stroh“, erklärt Heising. „Viel- leicht gestalten wir nur einen Teil des Hauses fertig, im restlichen Teil können Besucherinnen und Besucher den Aufbau live miter- leben und zum Beispiel selber den Lehmboden festtreten.“ Bei der Grabung gilt der wissenschaftliche Ehrenkodex Bis es so weit ist, liegt noch ein gutes Stück Arbeit vor ihm und seinem Team. Zehn Jahre lang wurde in Lahr-Dinglingen gegra- ben, auf einer Fläche von mehr als einem Hektar wurden mindestens zehn übereinanderliegende Siedlungsschichten aufge- deckt. Etwa 200.000 Ein- zelfundstücke haben die Archäologinnen und Ar- chäologen dokumentiert. „Diesen Wust zusammen- zudampfen auf eine wissen- schaftliche Analyse und eine Publikation, das macht die Archäo- logie aus“, sagt Heising. Jede Aus- wertung könne nur so gut sein wie die Dokumentation, die ihr zugrun- de liege. Denn was Mitarbeitern vor Ort vielleicht entgeht, ist verlo- ren – eine Bronzemünze zum Bei- spiel, die im Dreck nicht zu sehen ist, oder eine Tonscherbe. Bei der Grabung gilt der wissenschaftliche Ehrenkodex: Alles, was das Team auf dem Gelände entdeckt, muss es auf Fotos und in Beschreibun- gen festhalten. „Natürlich passie- ren auch mal Fehler, wir sind alle Menschen. Aber generell arbeiten wir mit größtmöglicher Präzision.“ Mitunter werden Funde doku- mentiert, bei denen selbst erfahre- ne Kollegen nicht wissen, um was es sich genau handelt. Ein Ofen zum Beispiel ist auf den ersten Blick gut erkennbar. Doch han- delt es sich um einen Töpfer- oder einen Räucherofen? Oder wurde Bronze drin geschmolzen? „Da muss man ins Büro und Bücher wälzen, um hoffentlich bei Ausgra- bungen anderer Länder fündig zu werden. Vielleicht entdecke ich die gleiche Ofenform, und Kollegen aus Frankreich oder Österreich haben darin Bronzereste gefun- den. Also weiß ich: Unser Ofen ist mit hoher Wahrschein- lichkeit ein Bron- zeschmelzofen“, erklärt Heising. Große interna- tionale Daten- banken, in de- nen alle Funde gespeichert sind, gibt es bisher nicht. „Zwar haben wir diverse kleinere Datenbanken, aber weil jedes Foto detailliert beschrieben werden muss und die Angaben schlecht zu vereinheitlichen sind, gestaltet sich die Idee einer Ge- samtdatenbank schwierig.“ Bleiben das Suchen in Büchern und ande- ren Publikationen sowie der Aus- tausch mit anderen Archäologen. „Ich sage meinen Studierenden immer: Das Wichtigste ist, mitei- nander zu reden, denn einer allei- ne kann gar nicht alles wissen, um sämtliche Funde richtig zuordnen zu können.“ Dann wird auch mal informell eine Facebook-Anfrage unter Kollegen gestartet: Hat je- mand diese Form schon gesehen? Was könnte das sein? Ein Beet mit historischen Kulturpflanzen Essenziell für die Auswertung sind so genannte Stratigrafien und Zeichnungen, die bei der Grabung von Hand angefertigt werden. Die Zeichnungen und der begleiten- de Text gelten als Hauptdokument. Archäologen können schon beim Übertragen der Funde auf Papier interpretieren und zum Beispiel Schichten, die ihnen besonders wichtig erscheinen, stärker her- vorheben. Eine Stratigrafie ist ein vertikales Bodenprofil, aus dem die Archäologen einzelne Schichten herauslesen: gestampften Lehm, mit dem ein verunreinigter Boden im Haus abgedeckt wurde, zum Beispiel. In Lahr-Dinglingen finden sich in einer 60 Zentimeter dicken Bodenschicht Überreste von rund 200 Jahren Siedlungsgeschich- te. „Diese Zeitschichten müssen wir auseinanderklamüsern“, sagt Heising. Das Lieblingsfundstück der Ar- chäologen ist die Münze – eine unschätzbare Hilfe beim Datieren einer Ausgrabungsstätte. „Inschrif- ten sind besonders aussagekräftig und lassen relativ einfach Rück- schlüsse zu, aber davon haben wir hier leider selten welche“, sagt Heising. Dafür bietet die am bes- ten erforschte römische Siedlung am südlichen Oberrhein andere Besonderheiten. Brandgräber von Erwachsenen zum Beispiel. Die durften nach römischem Gesetz nur außerhalb einer Siedlung an- gelegt werden. „Das deutet darauf hin, dass wir einen Siedlungsrand vorliegen haben und die Siedlung irgendwann verkleinert wurde.“ Ein archäobotanischer Schatz sind die sechs Brunnen, die auf dem Ge- lände entdeckt wurden. Auf deren Grund haben die Wissenschaftle- rinnen und Wissenschaftler Pollen von 300 Pflanzenarten gefunden, die zu römischen Zeiten in und um die Siedlung gestanden haben müssen: unter anderem Nacktwei- zen und Emmer, Flaschenkürbis und Schildampfer, Spatzenzunge und Roter Fingerhut. Diese „Lahrer Liste“, schwärmt Alexander Heising, könne man ebenfalls zur Landes- gartenschau auferstehen lassen und zum Beispiel ein Beet mit his- torischen Kulturpflanzen anlegen, direkt hinter dem Streifenhaus. 02 2012 Der Archäologe Alexander Heising lässt den Alltag einer Römersiedlung in der Ortenau wieder aufleben In die Natur: Freiburger Wissens- wanderungen starten > Seite 2 In die Luft: Wissenschaftler testen Sprengsensoren > Seite 6 In die Zukunft: STAY-Stipendien helfen Forscherinnen > Seite 12 Zur Landesgartenschau 2018 soll in Lahr ein so genanntes Streifenhaus entstehen. Archäologen haben dort etwa 200.000 Fundstücke aus der Römerzeit ausgegraben. Bauen mit Holz,Lehm und Stroh