05 2016 unı leben die zeitung der albert-ludwigs-universität freiburg www.leben.uni-freiburg.de 3 aktuell alle jahre wieder? – jedes jahr anders! wie sich das weihnachtsfest im glauben, in der gesellschaft und in der kultur wandelt seit dem spätsommer starren einen schokonikoläuse aus den regalen der supermärkte an, ganz zu schweigen von advents- kalendern und lebkuchen. da fragt man sich: welchen reiz hat weihnachten heutzutage noch? ist es ein säkularisiertes konsum- und kommerzfest geworden? nein, wiegelt der freiburger theologe dr. stephan wahle ab. alexander ochs hat ihn zu den wichtigsten phänomenen rund um weihnachten in deutschland befragt. heiligabend, weihnachten, ad- ventszeit – zu der frage, wie sich die bedeutung der festtage im laufe der jahrhunderte gewandelt hat, gibt es bestimmt hunderte bücher, insbesondere aus der theologie. könnte man meinen. doch weit gefehlt. eine ausnahme ist die arbeit von stephan wahle. der 42-jährige ist seit 2006 an der universität freiburg für liturgiewis- senschaft in der katholischen theo- logie zuständig und hat in seiner habilitationsschrift weihnachten in glaube, kultur und gesellschaft untersucht. im juli 2016 erhielt er dafür den balthasar-fischer-preis. „die akademische theologie be- schäftigt sich kaum mit weihnach- ten. es hat mich immer gestört, dass es dazu keine aktuelle monografie gibt, und wenn, dann nur zur frühen ge- schichte, nicht zu den transformationsprozes- sen“, erklärt wahle. „ich wollte das tun, was sonst eher volkskundler oder kulturwissenschaftler tun, nämlich als theologe auch die kul- tur in den blick nehmen.“ dazu ge- hört zum beispiel die frage, auf welche weise menschen heilig- abend zu hause verbringen. volle kirchen an weihnachten weihnachten ist historisch be- trachtet erst relativ spät entstan- den: im 4. jahrhundert: „die ersten gottesdienste und texte, auf die wir uns stützen, stam- men aus der späten antike. da spielt das krippenkind, also jesus als das kleine, h i l f l o s e kind, keine rolle“, be- richtet wahle. im vordergrund stand die bedeutung jesu als inkar- nierter sohn gottes. im mittel- alter weitete sich das spektrum, und die innige betrachtung des kin- des rückte mit in den mittelpunkt. bis ins 19. jahrhundert hinein blieb weih- nachten ein kirchliches fest und stark durch den kirchgang bestimmt. im evangelischen verschob sich das weihnachtsfest schon früh vom 25. auf den 24. dezember, für katholiken war die christmette, also die messe in der heiligen nacht, der entschei- dende gottesdienst. das sei in jünge- rer zeit aber nicht mehr so, sagt der forscher. es verlagere sich alles ein stück weit nach vorne. und: „der gottesdienst an weihnachten bleibt von den besucherzahlen her relativ stabil. es ist der zentrale gottes- dienst im ganzen jahr.“ sehnsüchtiges warten apropos vorverlagerung und ver- schiebung nach vorne: die weih- nachtsmärkte öffnen zum teil schon mitte november und schließen am 23. dezember. an weihnachten ist der weihnachtsmarkt also schon pas- sé. „es handelt sich ja explizit um ei- nen weihnachtsmarkt – und nicht oder nur selten um einen advents- markt“, sagt der theologe. weih- nachtsmärkte sind ihm zufolge nicht nur ein großer exportschlager, son- dern auch ein kultureller bestandteil mit seinen eltern und freunden im familieneigenen wald. „er ist bei mir traditionell geschmückt, mit echten kerzen, äpfeln und lebkuchen – und nicht mit kugeln oder lametta.“ naive rituale, bewusste praxis wahle unterscheidet zwi- schen einer kirchlichen, einer privaten und einer gesellschaftlichen bedeu- tung, die man dem fest zumisst. das essen, ob karpfen oder kartoffelsalat, ob mit fleisch oder vegetarisch, ist für ihn essen- zieller bestandteil des festes. wie auch immer die rituale und abläufe sich in den familien entwickelt haben – hauptsache, es wird gemacht. garantiert das die „heile welt“ an heiligabend? „nein“, erwi- dert der theologe, „es gibt unter- schiedliche handlungsmuster. die allermeisten feiern dieses ritual so mit, ohne sich darüber gedanken zu machen. das ist eine gewisse naiv praktizierte ritualität. dann gibt es eine kleinere gruppe, die davor flieht – durch fernreisen zum beispiel. und es gibt eine kleinere gruppe, die das voll und ganz be- wusst vollzieht.“ selbst nicht religi- öse menschen feiern das fest, weil dabei auch existenzielle fragen und gedanken mitschwingen und es platz für schmerz bietet. man ge- denkt eines verstorbenen oder freut sich über leuchtende kinderaugen. „weihnachten ist ein soziales und heiliges fest, bei dem das thema zeit und ewigkeit eine rolle spielt; durch und durch religiöse begriff- lichkeiten, auch ohne beten oder vorlesen der weihnachtsgeschichte nach lukas.“ die sei übrigens auch ein unverzichtbarer bestandteil von weihnachten. und je nachdem, ob ein platz besetzt sei oder leer blei- be: „man sagt und singt zwar ‚alle jahre wieder‘, aber jedes jahr ist es doch ein bisschen anders.“ „kollek- tive kontingenz“ nennt der wissen- schaftler das. und er gibt zu beden- ken: „die vier, fünf stunden am nachmittag von heiligabend bis zum frühen abend sind die inten- sivsten des ganzen jahres.“ des festes. „sie haben eine lange tradition: am kirchplatz haben men- schen ihre waren der städtischen bevölkerung feilgeboten. man denke zum beispiel an den nürnberger christkindlesmarkt als einen der ältesten und bekanntesten weih- nachtsmärkte der frühen neuzeit.“ der weihnachtsmarkt sei ausdruck einer sehnsucht. „unabhängig vom glühweintrinken geschieht das eigentliche erst danach, also am weihnachtstag selbst. es wird perma- nent etwas vorweggenommen, zugleich aber klargemacht, dass das vorweggenommene noch nicht ganz da ist. gesellschaftlich ist weihnach- ten für viele mit dem 25. dezember schon fast vorbei, wohingegen es kirchlicherseits dann erst anfängt.“ laut katholischem kirchenkalender endet die weihnachtszeit erst am sonntag nach dem 6. januar. leise nadelt der baum egal, wie früh manche ihre blau- fichte oder nordmanntanne aufstellen – der wichtigste bestandteil des weihnachtsfestes in deutschland ist und bleibt der baum. knapp 30 milli- onen bäume werden hierzulande jedes jahr verkauft. „der baum ist das symbol deutscher weihnacht. ohne baum geht es kaum“, resü- miert wahle. „er ist inbegriff einer bürgerlichen familienweih- nacht, wie sie sich im 19. jahr- hundert entwickelt hat.“ heutzu- tage wird der brauch bis nach abu dhabi oder australien getragen, in fremde gegen- den also, in die er klima- tisch gar nicht hineinpasst und somit reine dekoration ist. wahle, gebürtiger sau- erländer, schlägt seinen weih- nachtsbaum bis heute zusammen ausdruck einer sehnsucht: weihnachtsmärkte beginnen meistens ende november und enden einen tag vor heilig- abend – also erst dann, wenn das eigentliche weihnachtsfest losgeht. fotos: thomas kunz erst im mittelalter rückte die innige betrachtung jesu als kleines krippen- kind in den mittelpunkt. „die akademische theologie be- schäftigt sich kaum mit weihnach- ten. es hat mich immer gestört, dass es dazu keine gibt, und wenn, dann nur zur frühen ge- schichte, nicht zu den transformationsprozes- sen“, erklärt wahle. „ich wollte das tun, was sonst eher volkskundler oder kulturwissenschaftler tun, nämlich als theologe auch die kul- wir uns stützen, stam- men aus der späten antike. da spielt das krippenkind, also jesus als richtet wahle. im vordergrund stand die bedeutung jesu als inkar- nierter sohn gottes. im mittel- alter weitete sich das spektrum, und die innige betrachtung des kin- des rückte mit in den mittelpunkt. bis ins 19. jahrhundert hinein blieb weih- nachten ein kirchliches fest und stark durch den kirchgang bestimmt. im evangelischen verschob sich das weihnachtsfest schon früh vom 25. abend – also erst dann, wenn das eigentliche weihnachtsfest losgeht. erst im mittelalter rückte die innige betrachtung jesu als kleines krippen- kind in den mittelpunkt. auch nicht religiöse menschen feiern weihnachten, weil das fest platz für existenzielle fragen und gedanken bietet, sagt stephan wahle. naive rituale, bewusste praxis wahle unterscheidet zwi- schen einer kirchlichen, einer privaten und einer gesellschaftlichen bedeu- tung, die man dem fest zumisst. das essen, ob karpfen oder kartoffelsalat, ob mit fleisch oder vegetarisch, ist für ihn essen- nachtsmärkte der frühen neuzeit.“ der weihnachtsmarkt sei ausdruck einer sehnsucht. „unabhängig vom glühweintrinken geschieht das eigentliche erst danach, also am weihnachtstag selbst. es wird perma- nent etwas vorweggenommen, zugleich aber klargemacht, dass das vorweggenommene noch nicht ganz da ist. gesellschaftlich ist weihnach- ten für viele mit dem 25. dezember schon fast vorbei, wohingegen es kirchlicherseits dann erst anfängt.“ laut katholischem kirchenkalender endet die weihnachtszeit erst am sonntag nach dem 6. januar. leise nadelt der baum egal, wie früh manche ihre blau- fichte oder nordmanntanne aufstellen – der wichtigste bestandteil des weihnachtsfestes in deutschland ist und bleibt der baum. knapp 30 milli- onen bäume werden hierzulande jedes jahr verkauft. „der baum ist das symbol deutscher weihnacht. ohne baum geht es kaum“, resü- miert wahle. „er ist inbegriff einer bürgerlichen familienweih- nacht, wie sie sich im 19. jahr- hundert entwickelt hat.“ heutzu- tage wird der brauch bis nach abu dhabi oder australien getragen, in fremde gegen- den also, in die er klima- tisch gar nicht hineinpasst und somit reine dekoration ist. wahle, gebürtiger sau- erländer, schlägt seinen weih- nachtsbaum bis heute zusammen lebkuchen, äpfel und kerzen: stephan wahle schmückt seinen weih- nachtsbaum traditionell. fotos: ars ulrikusch, by-studio, s.h.exclusiv (alle fotolia) 052016