01 2019 forschen 5 unı leben Die Zeitung der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg www.leben.uni-freiburg.de Myrrhebüschel zwischen den Brüsten Warum die Verse des Hohelieds die jüdische Liebesliteratur über Jahrtausende prägten und weiterhin inspirieren Können Sie das an einem Beispiel Was verraten die Texte über das verdeutlichen? heutige Leben und Lieben in Israel? Der Vers „Lege mich wie ein Siegel an deinen Arm, denn stark wie der Tod ist die Liebe“ taucht immer wieder in Roma- nen und Gedichten verschiedener Epo- chen auf. Ursprünglich ist damit die lebens lange Bindung an einen Partner gemeint, eine ganz exklusive Beziehung, die jemanden vielleicht auch im negativen Sinne in Beschlag nehmen kann. In der späteren Rezeption haben jüdische Denker diesen Vers auch auf Gott ausge- weitet, obwohl dieser im gesamten Hohe- lied nur an einer Stelle genannt wird. Die Schriftstellerin Leah Goldberg, die viel über die Schrecken der Shoa schrieb, greift das Motiv in einem literarischen Liebesbrief auf. Dort verschmelzen der abweisende Geliebte Emanuel – wörtlich übersetzt: „Gott ist mit uns“ – und eine Gottesfigur. Ihr Gedicht lässt sich als ein deutlicher Abschied von der Liebe Gottes lesen. Ich denke da an den Roman „Wir sehen uns am Meer“ von Dorit Rabynian. Es handelt sich um eine Liebesgeschichte zwischen einer Israelin und einem Paläs- tinenser, und sie endet im Fiasko. Sie leben keine 20 Kilometer auseinander, aber in Israel dürfen sie nicht zusammen- wohnen, geschweige denn heiraten. Der Palästinenser mietet sich dann ein Haus und fängt an, den Garten zu bebauen – so wie einen Paradiesgarten. Er macht das in dem Wissen, dass seine israeli- sche Geliebte dort niemals mit ihm zu- sammen leben wird. Der Roman ist natür- lich eine Fantasie. Aber man kann sich schon die Frage stellen: Wenn es schon bei einem Liebespaar nicht funktioniert, wie schwierig ist es erst für zwei Gruppie- rungen oder Staaten? Das Liebespaar Adam und Eva zeigt der Künstler Rainer Oberhänsli- Widmer als Menschen, die sich in Schweigen hüllen. QUELLE: RAINER OBERHÄNSLI-WIDMER Es sind nur eine Handvoll romantische Verse aus längst vergangenen Zeiten. Trotzdem haben sie über Jahrtausende immer wieder Schriftstellerinnen und Schriftsteller beflügelt: Das „Hohelied“ wird dem alttestamentarischen König Salomo zugeschrieben – einem, der sich mit der Liebe auskannte. Schließ lich soll er tausend Frauen bezirzt haben. Wieso wurde das Hohelied zu einem Schatzhaus der Liebesliteratur? Die Freiburger Judaistikprofessorin Gabrielle OberhänsliWidmer hat ein Buch darüber geschrieben. Im Gespräch mit Rimma Gerenstein erklärt sie, was die Romane, Gedichte und religiösen Schriften, die einen Zeitraum von mehr als 2.000 Jahren überspannen und unter anderem auf Deutsch, Hebräisch, Jiddisch und Griechisch geschrieben sind, über jüdische Lebenswelten verraten. uni’leben: Frau Oberhänsli Widmer, erinnern Sie sich noch daran, wann Sie zum ersten Mal das Hohelied ge lesen haben? Gabrielle OberhänsliWidmer: Ja, das habe ich sehr genau in Erinnerung. Mein Freund hat es mir damals aus der Bibliothek mitgebracht. Er wusste aber gar nicht, was das ist, und auch ich war ganz unbedarft und wusste nicht, dass es sich dabei um einen kanonischen Text handelt. Wir waren beide hin und weg. Ich glaube, so geht es allen, die es lesen. Es ist eine ganz archaische Erfahrung – vor allem, wenn Sie jung und verliebt sind. Beim Lesen des Texts war ich ich erstaunt, auf welche Verse FOTO: A3701027/ STOCK.ADOBE.COM gestoßen bin: „Mein Freund ist mir ein Büschel Myrrhen, das zwischen meinen Brüsten hängt“ steht da etwa, oder: „Ich habe mein Kleid ausgezo gen, wie soll ich es wieder anziehen?“ Ich weiß, worauf Sie anspielen. Sie wundern sich, dass solch ein erotischer Text in der Bibel enthalten ist. Dabei ist das nicht weiter überraschend. Die Schönheit der Liebe, auch der körper- lichen, wurde im Judentum nie verneint, und die biblischen Autoren zur Zeit der Entstehung des Hohelieds waren über- haupt nicht verklemmt. Dass es später so rigide Regeln gab, die das sexuelle Leben ordnen sollten, hat mehr mit der Abgrenzung im Exil und dem Bedürfnis zu tun, die eigene Gemeinschaft zu schützen. Um Moral geht es dabei weniger. Beginnt die jüdische Liebes literatur mit dem Hohelied? Ein liebevoller Gott war nach der Shoa also nicht mehr denkbar? Ja und nein. Es ist sozusagen der ideologische Anfangspunkt, aber nicht der historische. Auch das biblische Is- rael gründet auf vorbiblischen Funda- menten. Für mich als Wissenschaftle- rin ist es wichtig, die historische Linie nach hinten zu verlängern. Dann wird deutlich, dass auch das Hohelied auf andere Texte zurückgreift und sich aus altorientalischen und ägyptischen Lie- besliedern speist. Wir schreiben ja alle weiter, niemand beginnt bei null. Das Hohelied ist für die gesamte europäi- sche Literatur maßgeblich, so eine Art Liebesthesaurus, könnte man sagen. Und es zieht sich auch wie ein roter Faden durch die Texte, die ich unter- sucht habe. Für Goldberg nicht, für manche andere aber umso mehr. Darin liegt ja auch der besondere Reiz der Liebesliteratur, zumin- dest der guten: Sie ist ein Spiegel der je- weiligen Lebenswelten. Am Beispiel von Liebenden konturieren die Autorinnen und Autoren nicht nur die Psyche und den Charakter eines Individuums, sondern auch die Mentalitäten einer Epoche. Sie greifen Politik, Geschichte und Kultur auf, und manchmal haben die Texte sogar prophetische Qualitäten. In „Liebe zu Zion“ zum Beispiel erzählt Abraham Mapu, der Vater des modernen hebräischen Ro- mans, von der Bewegung des Zionismus – und das, lange bevor Theodor Herzl die- sen als Nationalbewegung begründete. Wissen, wo’s langgeht Taktile Displays für Sehbehinderte sollen bezahlbar werden gibt es bereits. Allerdings kosten sie je nach Ausführung Zehntausende von Euro. Für sein Forschungsvor- haben hat Rapp jüngst den mit zwei Millionen Euro dotierten Consolidator Grant des Europäischen Forschungs- rats (ERC) erhalten. Rapp sitzt in seinem Büro. Vor ihm auf dem Tisch liegen zwei Platten aus Kunststoff. Nicht weiter spektakulär. „Auf diesen regelmäßig gestalteten Oberflächen soll das Display aufge- baut werden“, sagt der 38-Jährige. Er streicht darüber und beginnt zu er- zählen. Ein Display für Sehende zu entwickeln sei technisch betrachtet trivial. Es funktioniere, weil Millionen von Lichtpunkten, die Pixel, Licht ge- nerierten und das Display zum Leuchten brächten. Man müsse dazu lediglich eine Spannung anlegen. „Um diese zu erzeugen, gibt es viele Mechanismen.“ Das taktile Display allerdings benötigt viele, viele Aktoren, die sich heben und senken. Nur so entsteht eine mit den Fingern lesbare Struktur auf der Geräteober- fläche. Solche Aktoren, auch „taktile Pixel“ oder „Taxel“ genannt, sind be- reits auf dem Markt. Angetrieben wer- den sie von Aktoren, die sich unter Spannung ausdehnen – so genann- ten Piezo-Aktoren. Einer dieser Pie- zo-Aktoren kostet knapp zwei Euro. „Für eine einzige Zeile in Braille-, also in Blindenschrift, benötigt man 800 dieser Aktoren, für eine DIN-A4- Seite mit einer grafischen Auflösung rund 30.000. Macht also fast 60.000 Euro“, rechnet Rapp vor. Von Flüssigkeit angetrieben Ein bezahlbares taktiles Display zu entwickeln ist kompliziert, denn Rapp will sich nicht mit einer grafiklosen Be- nutzeroberfläche zufriedengeben, wie man sie zu Beginn des Computerzeit- alters in den 1970er Jahren hatte. Da- mals musste man seinem Computer noch Befehle geben. „Heute würden doch die meisten Menschen ausflip- pen, wenn sie vor ihrem PC säßen und statt der gewohnten Symbole plötzlich nur noch eine Eingabezeile vor schwarzem Hintergrund erschiene.“ Der Forscher will etwas Zeitgemäßes. Etwas, mit dem sich sowohl eine Gra- fik als auch eine Zeile in Braille dar- stellen lässt. Ein Display, so wie er es sich vor- stellt, ist vor allem eine Frage der Ferti- gung. Rapp holt aus: „Wir kennen das aus der Halbleitertechnik. Die Menge an Transistoren, die wir auf einen Chip packen, ist mit den Jahren immer grö- ßer geworden. Teurer wurden die Gerä- te aber nicht.“ Rapp will das bestehen- de Skalierungsproblem bei taktilen Screens lösen. Heißt: Ob dann 100 oder 100.000 Taxel in das System inte- griert werden, wirkt sich nicht weiter auf den Preis aus. Lange sei versucht wor- den, das einzelne Taxel zu optimieren. von Stephanie Streif Ein paar Wischer hin und her, und schon hat man, was man braucht: Menschen kommunizieren und infor- mieren sich über ihr Smartphone oder lassen sich von ihm unterhalten. Das Display des Geräts samt seiner gra- fischen Steuerelemente haben sie längst verinnerlicht. Es ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Zu- mindest für Sehende. Bastian Rapp, Professor für Prozesstechnologie am Institut für Mikrosystemtechnik der Universität Freiburg, will nun zusam- men mit seinem Team ein taktiles Display entwickeln, das auch Blinde lesen und – was entscheidend ist – bezahlen können. Taktile Displays Dabei herausgekommen seien höchst präzise und langlebige Aktoren. Rapp jedoch möchte nicht länger das einzel- ne Taxel in den Blick nehmen, sondern in Systemen denken. „Gut möglich, dass unsere Taxel qualitativ schlechter daherkommen, dafür sind sie aber günstiger“ fügt er hinzu. Antreiben will er sie mit Flüssigkeit: „Diese bewegt sich in einem sehr verzweigten System und befüllt in Kombination mit anderen Materialien selektiv die einzelnen Kanälchen.“ Bastian Rapp zeigt die Kunst- stoffplatten, auf denen das neue Display entstehen soll. FOTO: INGEBORG F. LEHMANN Gabrielle Oberhänsli-Widmer schätzt die Bandbreite der jüdischen Liebes- literatur. FOTO: J Ü RG EN G O C K E Was Rapps Display einmal können wird, hängt nicht allein von ihm ab. Der ERC ermöglicht ihm und seinem Team, in den kommenden fünf Jahren eine Technologie zu erfinden. Mit der Hilfe der Industrie und von Software-Ent- wicklerinnen und -Entwicklern ließen sich dann konkrete Produkte entwer- fen. Zum Beispiel ein Display, über das sich Sehbehinderte in einer komplexen Umgebung wie einer Bahnhofshalle orientieren können. Denkbar wäre, dass eine in das Gerät integrierte Ka- mera Informationen wie die Ankunfts- und Abfahrtszeiten von den Anzeigeta- feln einfängt und aufs Display spielt. Oder dass ein Blinder Hindernisse nicht mehr mit dem Stock ertasten muss, sondern über das Display erken- nen kann. Auch Sehende könnten von der ei- nen oder anderen Anwendung profitie- ren, so Bastian Rapp: „In die Mittelkon- sole eines Autos könnte man ein Display integrieren, auf dem automa- tisch Knopfelemente entstehen, deren Matrix sich auf Knopfdruck verändern lässt.“ Lüftung, Radio, Sitzposition – diese und viele andere Funktionen lie- ßen sich auf diese Weise über ein ein- ziges Display steuern. Der Vorteil: Wer hinter dem Steuer sitzt, müsste nicht immer wieder den Blick auf die Knöpfe richten, sondern könnte mit seiner Auf- merksamkeit dort bleiben, wo sie ge- braucht wird – auf der Straße. Auch hierfür wäre der Forschungspreis nach Ansicht von Rapp gut angelegtes Geld.