uni wissen 02 2017 5 u nruhiges gemurmel erhebt sich unter der kuppel des leipziger volkspalasts. endlich betritt alison lewis, sängerin des duos keluar, die bühne. sie rückt das mikrofon zurecht, fährt sich noch einmal durch ihre blau gefärbten haare und nickt ihrem musikerkollegen zu. ein rhythmisches scheppern ertönt aus dem synthesizer. ein klang, wie wenn zwei metall- stücke gegeneinanderschlagen. die menge drängt näher heran, darunter martin und philipp, die es bis in die erste reihe geschafft haben. martin schließt die augen. er lässt sich von lewis’ hypnotischer stimme treiben, stampft, wie die sängerin es vormacht, mit seinen stiefeln auf den boden und wirbelt seinen oberkörper im halbkreis herum. bis ein mann an martin heran- tritt und ihn mit dem ellenbogen anstößt. stillstehen als protest prof. dr. markus tauschek erinnert sich noch gut an diesen vorfall. der kulturanthropologe betreibt feldforschung auf drei deutschen fes- tivals der gothic-szene – auch auf dem wave- gotik-treffen in leipzig, auf dem die berliner band keluar 2015 einen aufritt hatte. das anrempeln, das dem forscher zunächst als rü- pelhaftes verhalten eines betrunkenen erschien, entpuppte sich im gespräch mit martin nach dem konzert als nonverbales zeichen: „am an- fang durfte in der gothic-szene nicht getanzt werden. man stand bei konzerten einfach still da, als protest gegen die mainstream-kultur, in der tanzen zum musikerlebnis gehört“, erklärt tauschek. „martins interpretation war, dass der mann sein tanzen missbilligte und seine auffas- sung davon, wie sich ein gothic zu verhalten hat, nicht teilte.“ wie handeln menschen auf gothic-festivals? welche interaktionen gibt es? wie konstituiert sich die szene über diese festivals, und wie ver- ändert sie sich? das sind fragen, die tauschek mit seinem von der deutschen forschungs- gemeinschaft geförderten projekt „doing popu- lar culture. zur performativen konstruktion der gothic-szene“ beantworten will. „die kulturellen regeln und ordnungen der szene sind nicht ver- schriftlicht. es gibt keine bibel, die einem sagt, was man auf den festivals tun soll und wie man es tut“, sagt tauschek. deshalb fährt er auf fes- tivals wie das wave-gotik-treffen, zu dem jähr- lich mehr als 20.000 besucherinnen und besucher aus aller welt anreisen. tauschek „das ganze hat auch einen volksfestcharakter“ mischt sich unter sie, besucht konzerte, führt in- terviews mit szenemitgliedern und beobachtet das geschehen. die festivals spielen eine zentrale rolle für die szene: „sie stabilisieren und transformieren sie gleichzeitig. ihre mitglieder können sich bei diesen events immer wieder vergewissern, dass sie teil einer großen familie sind.“ tauschek beschreibt die mehrtägigen veranstaltungen, die er in köln, hildesheim und leipzig besucht, als „hybride konstrukte“, die sich aus vielen elemen- ten zusammensetzen. bei dem festival in leipzig zum beispiel ließen sich viele unter- schiedliche kulturindustrielle angebote beobach- ten. es gebe dort ausstellungen, lesungen, verkaufsmessen, einen gottesdienst, konzerte und partys. „das ganze hat auch einen volks- festcharakter“, sagt tauschek. weltschmerz, sehnsucht, tod die wurzeln dieser szene liegen in den aus- gehenden 1970er jahren, als die punk-bewe- gung in england zunehmend zersplittert und progressive bands deren von gitarren dominier- ten sound um instrumente wie den synthesizer erweitern. ein neuer musikstil, der so genannte dark wave, ist geboren. robert smith, sänger der britischen band the cure, wird ihr wohl bekanntester protagonist: seine hochtoupierten schwarzen haare, die ihm wirr vom kopf abste- hen, eine dicke schicht weißer schminke, schwarz umrandete augen und knallrot bemalte lippen werden zu seinem markenzeichen. er singt von weltschmerz, sehnsucht und tod wie in dem lied „one hundred years“, das mit den zeilen „it doesn’t matter if we all die“ beginnt. smith wird damit zum idol einer sich formieren- den jugendbewegung: der gothics.