Die Zeitung der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg www.leben.uni-freiburg.de 02 2019 Dauerbrenner: die Folgen des Brexits für die Universität > S. 2/3 Doktorarbeit: Trainieren für den Ernstfall > S. 6 Dilemma: die Krise der katholischen Kirche > S.12 Den richtigen Nerv treff en Freiburger Forscher haben zusammen mit Kollegen in Italien und der Schweiz ein System mit einem senso rischen Feedback entwickelt, das Probanden mittels Elektro- stimulation ein Gefühl in der Hand zurückgibt. FOTO: LIFEHAND2PROJECT Thomas Stieglitz will Handprothesen so verbessern, dass Patienten sie als Teil des Körpers wahrnehmen von Annette Hoffmann Wenn es um Handprothesen geht, führt an Ferdinand Sauerbruch (1875–1951), einem der einfl ussreichsten Chirurgen des 20. Jahrhunderts, noch im mer kein Weg vorbei. „Der Traum, dass Menschen nach ei- ner Armamputation wieder fühlen können, ist alt, und Ideen dazu kamen schon früh auf. Im Zuge des Ersten Weltkrieges wurde die erste Prothese mit sensorischem Feedback entwickelt, eins zu eins, rein mechanisch“, sagt Prof. Dr. Thomas Stieglitz von der Uni- versität Freiburg und beginnt die Funktion des so genannten Sauer- brucharms zu beschreiben. Die Anekdote will, dass Sauerbruch sich dafür 1916 eigens die „Eiser ne Hand“ Götz von Berlichingens an die Berliner Charité schicken ließ, um sie genau zu studieren. Danach soll der kleine Finger nicht mehr so recht funktioniert haben. Sauerbruch legte Kriegsversehr- ten und Unfallopfern operativ einen Hauttunnel für einen Elfen- beinstift, der durch einen Seilzug mit einer Prothese verbunden wurde. Wurde nun der Muskel im Armstumpf angespannt, bewegte sich der Tunnel und mit ihm die Hand. Umschloss die hölzerne Handprothese einen Gegenstand, drückte das Gewicht auf die Haut und meldete dem Prothesenträger zurück, wie fest er zugriff. Dass die Prothese nicht zu einem Mas- senprodukt wurde, lag nicht allein an den relativ hohen Kosten: Die hygienischen Verhältnisse waren in der Zwischenkriegszeit derart prekär, dass es oft zu Entzün- dungen am Kanal kam. Speziell designte Elektrode Thomas Stieglitz jedoch ist we- der Medizinhistoriker noch Arzt, er ist Elektroingenieur und leitet das Labor für Biomedizinische Mikrotechnik am Institut für Mikro- systemtechnik (IMTEK) der Albert- Ludwigs-Universität. Ihm und sei- nem Team ist es nun zusammen mit Kolleginnen und Kollegen in Italien und der Schweiz gelungen, ein System mit einem senso- Thomas Stieglitz leitet das Labor für Biomedizinische Mikrotechnik am Institut für Mikrosystemtechnik der Albert-Ludwigs- Universität. FOTO: PAT RI C K S EEG ER rischen Feedback zu entwickeln, das Probandinnen und Probanden mittels Elektrostimulation ein Ge- fühl in der Hand zurückgibt – sowohl, was die Beweglichkeit, als auch, was die Empfindlichkeit angeht. Das Forschungskonsor- tium hat die Ergebnisse im Herbst 2018 in der Zeitschrift „Neuron“ veröffentlicht. In Videos, die mit Probanden gedreht wurden, ist zu sehen, wie diese mit der Hand- prothese Gegenstände anheben und von einer Seite auf die ande- re legen oder wie sich eine Frau die Lippen schminkt, als sei die Prothese Teil des Körpers. Noch konnten die Funktionen nur unter medizinischer Obhut getestet wer- den, und noch ist das Gehäuse so groß, dass man einen Rucksack braucht, um es zu verstauen. Doch die Versuche haben ge- zeigt: Das Implantat funktioniert. Nicht zu steif, nicht zu kantig Auf dem Konferenztisch im IMTEK liegt in einer Schachtel die Elektrode, die den Patientinnen und Patienten bei Operationen in Italien in den Nerv eingesetzt wurde. Sie muss einige Voraus- setzungen erfüllen. Das Material, so führt Thomas Stieglitz aus, muss so sein, dass möglichst we- nig Fremdkörperreaktionen im Körper stattfinden. Es darf nicht giftig sein, nicht zu steif, nicht zu kantig, so dünn wie möglich und so robust wie nötig. Wer genau hinschaut, sieht die Metallkontakte, die links und rechts angeordnet sind und elektrisch stimuliert werden können. Das haarfeine Kabel kann in den Nerv einge fädelt werden, ohne dass dadurch Schmerzen entstehen. Sobald Nervenzellen in der Nähe des Kabels sind, wird der Nerv erregt. Ob sich dies anfühlt wie ein Kuh- zaun, wie Stieglitz sagt, oder wie ein Druck auf das obere Drittel des nicht vorhandenen Zeige- fingers, ist eine Frage der Codie- rung der Stromimpulse. Jeder Mensch ist hier anders veranlagt, sodass sämtliche Kontakte im Versuch abgefragt und individuell eingestellt werden müssen. Mittlerweile ist die medizinische Erprobungsphase abgeschlossen. Nach einer 30tägigen Sicher heitsstudie wurde das Implantat drei weiteren Patienten für ein halbes Jahr eingesetzt. Vorerst wird es keine weiteren Operatio- nen geben. Diese seien ethisch nicht vertretbar, sagt Stieglitz, so- lange das Implantat nicht auf Dauer im Körper bleiben könne. Denn das ist das eigentliche Ziel: ein Implantat zu entwickeln, das mindestens zehn Jahre, am bes- ten aber dauerhaft im Körper ver- bleibt wie etwa das Cochlea- Implantat – eine Hörprothese – und dessen Teile austauschbar sind. Langfristig erhoffen sich die euro- päischen Kollegen von den Frei- burger Forscherinnen und For- schern die Entwicklung eines drahtlosen Systems. Doch bis dahin seien noch einige Probleme zu lösen, deutet Stieglitz an, insbesondere das der Verbindung der Elektroden zum Gehäuse. Die Entwicklung von Prothesen ist eng an den Kriegskontext ge- koppelt. Während die Anwendung nach Arbeitsunfällen seit den 1970er Jahren erheblich zurückge gangen ist, haben Kriegsverletz- ungen in den vergangenen Jahren zugenommen. Bei Prothesen sind zudem oft kulturelle Prägungen von Bedeutung. „In Europa soll eine Handprothese halbwegs gut aussehen, in den USA zählen die Funktionen mehr als die Optik. All das trägt zu ihrer Akzeptanz bei“, erläutert Stieglitz. Der Konsens als Ziel Natürlich kennt der Professor des IMTEK und Fan des polnischen Science-Fiction-Autors Stanislaw Lem die einschlägigen Cyborg- fantasien. „Soll ich das, was ich kann, auch machen? Wo möchten wir unsere Grenzen setzen?“, fragt er rhetorisch und gibt den gesell- schaftlichen Konsens als Ziel aus. Nach dem Zivildienst hatte Stieglitz kurzzeitig mit einem Medi- zinstudium geliebäugelt und ist dann doch Ingenieur geworden. Er sieht sich und seine Gruppe am IMTEK als „Universaldilettanten“, die über ein medizinisches Grundverständnis und über ein breites Portfolio aus Maschinenbau, Elektro technik, Chemie, Material wissenschaften und Fertigungstechnik verfügen: „Der Rest ist für alle Neuland.“