Dr. Andrea Albrecht studierte Germanistik, Philo- sophie und Mathematik in Bremen, Hamburg und Göt- tingen. 2003 promovierte sie an der Universität Göt- tingen über Weltbürgerdis- kurse in Philosophie, Litera- tur und Publizistik. Von 2002 bis 2004 war sie dort wissenschaftliche Mitarbei- terin an der Akademie der Wissenschaften. Im An- schluss war sie zweieinhalb Jahre Gastwissenschaft lerin an der University of California, Berkeley/USA. Seit 2007 ist sie wissen- schaftliche Mitarbeiterin und Nachwuchsgruppen leiterin (Emmy-Noether- Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft) am Deutschen Seminar II der Universität Freiburg. Seit 2008 forscht Albrecht an der School of Language and Literature am FRIAS. Zu ihren Schwerpunkten gehören unter anderem das Verhältnis von exakter Wis- senschaft (insbesondere Mathematik), Literatur und Kulturtheorie. sagt Albrecht, „die Parteien treten miteinander ins Gespräch, veröffentlichen Beiträge, in denen sie diskutieren und sich aufeinander beziehen.“ Neben Zeitschriften aus der Zeit um 1900 und Romanen und Theaterstücken des frühen 20. Jahrhunderts untersucht Albrecht auch nicht literarische Texte – die frühesten stammen aus dem 17. Jahrhundert. In Vorworten zu wissen- schaftlichen Schriften wandten sich Mathema tiker zum Beispiel an ihre Kollegen aus der Philo- sophie. Im 18. und 19. Jahrhundert trafen Mathematiker, Natur- und Geisteswissenschaftler vor allem bei Rektorats- und Amtsantrittsreden aufeinander – und übten sich in Selbstinszenie- rungen, die allerdings nicht immer in Kontroversen endeten. Sogar Geistesgrößen wie Immanuel Kant oder Moses Mendelssohn lobten im 18. Jahr- hundert das friedliche Gemüt der Mathematiker, während sie die cholerischen Philosophen schal- ten: „Diese zwei Gegenpole entsprechen nicht der damaligen Realität“, erklärt die Wissen- schaftlerin. „Hält man die Geschichte dagegen, ging es unter Mathematikern überhaupt nicht harmonisch zu, es gab sehr handfeste Streitfälle. Doch in der Geschichtsschreibung wird das unsichtbar gemacht. Wer sich streitet, wie zum Beispiel Thomas Hobbes, gilt nicht als ‚echter Mathematiker‘ – und wird im Nachhinein ausge- grenzt.“ Bis heute ist der Engländer vor allem als Staatstheoretiker und Philosoph bekannt, für seine mathematischen Ambitionen ist er nicht berühmt geworden. Mathematiker: die besten Soldaten Kämpferisch, heldenhaft, hart: In den 1920er und 1930er Jahren hat sich das Bild des Mathe- matikers gewandelt. Deutschland bereitete sich auf den Krieg vor, suchte die besten und fähigs- ten Soldaten: „Auch hier ging man davon aus, dass die Wissenschaft den Charakter prägt“, sagt Albrecht, „angehende Akademiker sollten ein nationales Bewusstsein, ein Ethos entwi- ckeln.“ Mathematiker galten als besonders willens- stark und enttäuschungsresistent – das „soldati- sche Gemüt“ wurde zum pädagogischen und politischen Ideal. Hatte die Mathematik um die Jahrhundert wende den Ruf, eine Wissenschaft zu sein, die kaum für den Alltag relevant war, stieg ihr Stellen- wert im Dritten Reich: Deutschland brauchte Statistiker – für Tote, Versicherungen oder Unter- suchungen von Schusswaffen. Auch die national- sozialistischen Akademiker verknüpften Wissen- schaft mit brauner Ideologie. „In den 1930er Jahren wird die ‚Deutsche Mathematik‘ begründet, mit allen antisemitischen Ausfällen, die man sich dabei vorstellen kann“, erzählt Andrea Albrecht. Das Ziel: alle Juden aus der Mathematik vertrei- ben, ein völkisch-rassisches Akademiker-Ideal schaffen. Jüdischen Wissenschaftlern wie Emmy Noether warf die Nazi-Forschergemeinschaft zu viel Abstraktheit und Theorie vor, ein deutscher Mathematiker arbeite hingegen anschaulich und intuitiv. Auch wenn es in der Praxis anders aus- sah: Was zählte, war die Inszenierung. „Ohne Emmy Noether gäbe es keine moderne Mathe matik, und das wussten auch die Deutschen. Aber sie zitierten statt Noether ihre eigenen Schergen. Dass sie mit ihrer ‚Deutschen Mathe- matik‘ wissenschaftlich verloren hatten, war ihnen schon klar.“ Zum Weiterlesen Albrecht, A. (im Druck): „Allezeit unparteiliche Gemüther“? – Formen und Funktionen des Streitens über Mathematik im 17. und 18. Jahr hundert. In: Bremer, K. / Spoerhase, C. (Hrsg.): Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit, Sonderband: Gelehrte Polemik. Typen und Techniken wissenschaftlicher Konfliktführung in der respublica litteraria des 17. und 18. Jahr- hunderts. Albrecht, A. (2009): Mathematisches Wissen und historisches Erzählen: Michael Köhlmeiers Roman „Abendland“. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 8, S. 192 – 217. Albrecht, A. (2008): Mathematische und ästhetische Moderne. Zu Robert Musils Essay „Der mathematische Mensch“. In: Scientia Poetica 12, S. 218–250. 27uni'wissen 03