01 2014 unı leben Die Zeitung der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg www.leben.uni-freiburg.de 5forschen Kämpfe und viel Handwerk Studierende haben in einem Seminar die kommentierte Edition einer theologischen Schrift aus dem 15. Jahrhundert erarbeitet von Thomas Goebel Wie sah einer der bedeutendsten christlichen Theologen des 15. Jahrhunderts den Islam – in einer Zeit, in der nach dem Fall Konstantinopels viele wichtige Kirchenmänner einen neuen Kreuzzug propagierten? „Erro- res legis Mahumeti“ (Die Irrtümer in Mohammeds Gesetz) heißt eine latei- nische Schrift des Wissenschaftlers und Bischofs Johannes von Segovia, die nun erstmals in einer kommentier- ten Edition veröffentlicht wurde. Zehn Freiburger Studentinnen und Studenten haben die Edition in einem fächerüber- greifenden Seminar erarbeitet. „Der Text erscheint ein bisschen un- spektakulär, weil er vor allem Auszüge aus der lateinischen Übersetzung des Korans aus dem 12. Jahrhundert ent- hält“, sagt Privatdozent Dr. Ulli Roth. Der Theologe hat das Editionssemi- nar gemeinsam mit seiner Kollegin, Privatdozentin Dr. Lenka Jiroušková vom Seminar für Lateinische Philo- logie des Mittelalters, entwickelt und geleitet. Bei genauerem Hinsehen sei der bisher nur in Handschriften vorlie- gende Text aber durchaus interessant, erklärt Roth: Johannes von Segovia habe sich mit dem Koran als Quelle befasst – keine Selbstverständlich- keit im 15. Jahrhundert. „Wenn wir die Irrtümer des Islam suchen, wollen wir es richtig machen“, sei seine Maxime gewesen. Bis zur Veröffentlichung der knapp elf Druckseiten umfassenden Editi- on des Textes im „Neulateinischen Jahrbuch“ samt ausführlicher Einlei- tung zu Autor, Werk, Einordnung des Textes und editorischen Prinzipien war es ein langer Weg. „Da haben wir viel Zeit reingesteckt“, sagt Me- lanie Wurst. Sie hat Theologie und Latein studiert; inzwischen schreibt sie an ihrer Doktorarbeit über Eras- mus von Rotterdam. „Es ist cool, eine Handschrift, die noch nicht veröffent- licht ist, zugänglich zu machen“, sagt sie und versichert: „Es macht Spaß, Handschriften zu lesen.“ „Zum Glück schön geschrieben“ Zumindest, wenn man sich eingear- beitet hat und die Zeichen des Schrei- bers zu entziffern weiß. Der Text des Johannes von Segovia ist in zwei Handschriften überliefert, die in Biblio- theken im Vatikan und im spanischen Sevilla liegen – „zum Glück schön ge- schrieben“, sagt Wurst. Beide haben vermutlich dieselbe Vorlage und sind nicht lange nach dem Ausgangstext Mitte des 15. Jahrhunderts entstan- den. Im Seminar ging es also nicht nur um das Lesen der Schriften – mit dem nicht alle Studierenden der Fächer Theologie, Mittellateinische Philolo- gie und Mittelalterstudien Erfahrung hatten –, sondern auch um die Frage nach den editorischen Prinzipien: Wie geht man mit uneinheitlichen Schreib- weisen um? Braucht der Text eine mo- derne Zeichensetzung? Wie werden Abkürzungen aufgelöst? Und vor al- lem: Für welche Variante entscheidet man sich bei Unterschieden zwischen den Handschriften – und warum? „Wir haben uns richtig gestritten“, er- innert sich die Doktorandin, „und die Kämpfe, die wir da ausgetragen haben, waren sehr hilfreich.“ Das bestätigt auch ihr Seminarkollege Thomas Glatt, der Theologie, Latein und Mathematik auf Lehramt studiert. „Ich habe ganz viel Handwerkliches gelernt.“ Zu Be- ginn des Seminars bildeten Jiroušková und Roth Zweiergruppen, die sich je- weils einem Textabschnitt und einem Thema für die Einleitung widmeten und ihre Ergebnisse regelmäßig den ande- ren präsentierten. Sie habe „eine enorme intellektuel- le Entwicklung“ bei den Studierenden beobachtet, sagt Jiroušková. Die un- terschiedlichen Vorkenntnisse in Be- zug auf sprachliches, theologisches, historisches und editorisches Wissen seien eine Herausforderung gewesen. „Von der Interdisziplinarität haben die Studierenden aber auch profitiert – weil sie Fremdes kennengelernt haben und für sie Selbstverständliches ihren Kol- leginnen und Kollegen vermitteln muss- ten.“ Der Weg von der Handschrift bis zur Veröffentlichung der Edition samt inhaltlicher Auseinandersetzung mit dem Text habe den Reiz ausgemacht, betont Glatt: „Die Motivation war hoch.“ Und wie sah nun Johannes von SegoviadenIslam?„Einefastschon stupi- de Sammlung von Zitaten“ sei seine Schrift, berichtet Glatt. Am Ende des Textes kommt Johannes zum Ergebnis, der Teufel habe den Koran geschrieben. Dennoch habe dieser Autor sich wesent- lich intensiver mit dem Koran auseinan- dergesetzt als viele andere Geistliche seiner Zeit, sagt Roth. Mithilfe des musli- mischen Gelehrten Iça Gidelli erarbeitete Johannes später sogar eine eigene Über- setzung. Er habe Muslime mit rationalen Argumenten vom Christentum überzeu- gen wollen und den Kreuzzug abgelehnt. „Sein Grundsatz lautete: Wir müssen das Schwert des Glaubens ziehen.“ Braucht der Text eine moderne Zeichensetzung? Wie werden Abkürzungen aufgelöst? Vereinheitlicht man unterschied liche Schreibweisen? Lenka Jiroušková (Mitte) erläutert die Prinzipien der Editionsarbeit. Foto: Thomas Kunz von Martin Jost Mami, wo ist eigentlich der Wasch- lappen?“, fragt das kleine Kind in der Badewanne. „Der ist noch mal kurz Zigaretten holen“, antwortet die Mutter. Das ist ein Witz, wie ihn Probandinnen und Probanden in einer Studie von Prof. Dr. Evelyn Ferstl zu lesen be- kamen. Ferstl ist seit Oktober 2013 Direktorin der Abteilung Kognitionswis- senschaft und Genderforschung am Institut für Informatik und Gesellschaft. Als ihren Forschungsschwerpunkt bezeichnet sie das Verstehen von Sprache. Gemeint ist damit allerdings nicht die Sprache an sich, sondern das, was Ferstl „Kommunikation im Kontext“ nennt. Und „Kontext“ heißt in diesem Fall: Wie verstehen Menschen Geschichten? Wie begreifen sie, dass etwas nicht wörtlich gemeint ist? Wie erkennen sie verbalen Humor und ent- schlüsseln Ironie? Einige linguistische Theorien ge- hen davon aus, dass Menschen einen Witz wie den obigen zuerst wortwört- lich verstehen, dann auf einen Wider- spruch stoßen (Waschlappen können gar keine Zigaretten holen!) und den Witz anschließend noch einmal neu interpretieren (die Mutter nennt ihren Partner einen Waschlappen – wit- zig!). Ferstl fand heraus, dass verbaler Humor genauso schnell verstanden wird wie eine Aussage, die wörtlich genommen werden darf. Dafür hat sie die Augenbewegungen von Leserin- nen und Lesern mit der so genannten Eye-Tracking-Methode gemessen und ausgewertet. Straucheln die Proban- den bei der Lektüre und kehren noch einmal zu dem Satz zurück? Nein. Und sie lesen auch nicht langsamer, wenn der Satz eine übertragene Bedeutung hat. Der „Aha-Effekt“ kommt sofort. Neben dem Eye-Tracking setzt Ferstl ein bildgebendes Verfahren ein: die funktionelle Magnetresonanzto- mografie. Diese Technologie macht sichtbar, welche Hirnareale bei be- stimmten Aufgaben aktiv sind. So hat die Forscherin gezeigt, dass neben dem Sprachzentrum andere Berei- che mitwirken, wenn es ums Verste- hen von mehrdeutigen Inhalten geht. „Wenn ich ironisch zu einem Freund oder einer Freundin sage: ‚Das ist aber ein schöner Pulli‘, und sie ver- stehen, dass ich das genaue Gegen- teil meine, dann müssen sie das am Kontext erkennen. Da spielt ihr Vor- wissen eine Rolle und die Beziehung, die wir haben.“ Ferstl nennt diejenigen Hirnareale, die das im Sprachzen- trum Verarbeitete gleichzeitig mit ei- nem Kontext verknüpfen, „erweitertes Sprachnetzwerk“. Es ist an sozialen Kommunikationsprozessen beteiligt und der Ort, wo Menschen ihre „Theo- ry of Mind“ bilden. Diese ermöglicht es ihnen nachzuvollziehen, dass andere einen Wissensstand haben können, der vom eigenen abweicht, und folg- lich zu anderen Annahmen kommen können. Die Theory of Mind ist nicht angeboren. Menschen entwickeln sie nach und nach zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr. „Es gibt ei- nen engen Zusammenhang zwischen dem Sprachverstehen und der Theory of Mind“, sagt Ferstl. „Und jetzt ist die Frage: Was ist die Henne, was das Ei?“ Eine mögliche Hypothese wäre, dass die Theory of Mind sich erst auf der Basis einer komplexen Sprachfähigkeit entwickeln kann. Frauen im Vorteil? „Ich finde die Frage nach Geschlech- terunterschieden sehr interessant“, er- klärt die Wissenschaftlerin. „Frauen lesen schneller und entschlüsseln mit weniger Aufwand die Kontextebene der Kommunikation. Sie lernen Spra- che früher und haben eher eine The- ory of Mind entwickelt.“ Die Variabili- tät unter Männern beziehungsweise unter Frauen sei aber viel größer als die Unterschiede zwischen den Ge- schlechtern. Quantitative Genderforschung sei kontrovers, sagt die Diplom-Mathe- matikerin, die in Colorado/USA in Ko- gnitionspsychologie promoviert wur- de und in Leipzig ihre Habilitation in Psychologie vorlegte. „Eine Kritik aus den eher geisteswissenschaftlichen Gender Studies lautet: Wir finden nur deshalb Unterschiede zwischen den Geschlechtern, weil wir sie finden wol- len.“ Ferstl entgegnet diesem Argu- ment damit, dass sich viele Annahmen in der Gesellschaft halten, die sich wo- möglich ausräumen ließen, wenn man sie experimentell überprüfen würde. Zum Beispiel gebe es für die Behaup- tung, dass Frauen viel mehr redeten als Männer, keine Belege. „Anderer- seits können wir klar zeigen, dass es wichtig ist, geschlechtersensible Sprache zu verwenden, um Frauen sichtbar zu machen. Und wir kommen mit sehr subtilen Messungen wie dem Eye-Tracking an Vorurteile heran, die den Menschen oft selbst nicht bewusst sind – und die trotzdem unsere Gesell- schaft prägen.“ Witze,Wörter und ein Waschlappen Die Kognitionswissenschaftlerin Evelyn Ferstl erforscht, wie Menschen Sprache im Kontext verstehen Lachen ohne Zeitverzögerung: Evelyn Ferstl fand heraus, dass Menschen ver- balen Humor genau so schnell verstehen wie eine Aussage, die sie wörtlich neh- men dürfen. Foto: coldwaterman/Fotolia