03 2016 unı leben Die Zeitung der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg www.leben.uni-freiburg.de 9 kompass von Anita Rüffer Die 21-jährige Jurastudentin erin- nert sich noch gut an ihr „turbu- lentes erstes Semester“ an der Uni- versität Freiburg: zum ersten Mal weit weg von zu Hause, ein wichtiger neuer Lebensabschnitt. „Da passiert so viel. Man braucht Menschen, die für einen da sind.“ Inzwischen ist sie im siebten Semester und gehört zum Team der derzeit 38 Studierenden, die bei dem Verein Nightline Freiburg ehrenamtlich für ihre Kommilitoninnen und Kommilito- nen da sind. Auch Studierende anderer Freiburger Hochschulen sind an Bord. Während des Semesters sitzen sie täg- lich von 20 bis 0 Uhr in wechselnden Schichten am „Zuhörtelefon von Stu- dierenden für Studierende“ und haben ein offenes Ohr für alles, was die Anru- fenden bewegt. Und weil es manchmal leichter ist, etwas aufzuschreiben, als darüber zu reden, sind neuerdings auch anonyme Kontakte über E-Mail möglich. „Der Bedarf ist größer, als nach außen sichtbar wird.“ Davon ist die Jurastu- dentin überzeugt. Ihr Name, erklärt sie, dürfe hier nicht erscheinen, denn auf Anonymität und Vertraulichkeit legen die Nightliner größten Wert. Wenn sie bei Werbeaktionen Leute ansprechen, schlüpfen sie zum Beispiel in Bären- kostüme. Auch ist nicht bekannt, wel- chen Arbeitsraum der Universität sie nutzen, und schon gar nicht, wer bei ihnen anruft. Was nicht heißt, dass die Anliegen immer hochdramatisch sind: Prüfungsangst, Zweifel an der Wahl des Studienfachs, Probleme mit Freun- dinnen und Freunden oder auch mal Freude über eine gute Note. „Wir sind in der gleichen Situation wie die Leute, die bei uns anrufen, und teilen ihre Freuden, Sorgen und Nöte.“ Experte für das eigene Leben Neben dem Zuhörtelefon liegt immer eine Liste mit Adressen von Anlauf- und Beratungsstellen: Wenn die Nightliner merken, dass jemand Suizidgedanken hegt oder von Missbrauchserfahrungen berichtet, fühlen sie sich nicht mehr kompetent genug, um weiterzuhelfen – auch wenn sie auf ihren Dienst mit Schulungen in klientenzentrierter Ge- sprächsführung nach Carl Rogers gut vorbereitet werden. Der Psychologe ging davon aus, dass Ratsuchende selbst Expertinnen und Experten für ihr eigenes Leben sind. Mit Ratschlägen halten sich die Nightliner daher zurück; vielmehr helfen sie den Anrufenden durch empathisches Zuhören auf die Sprünge. Von diesem Training dürften später auch mal auch die Patientinnen und Patienten eines 23-jährigen Medizin- studenten profitieren, der bei der Night- line nicht nur am Telefon sitzt, sondern auch für die Pressearbeit zuständig ist. Bei dem Verein engagieren sich Stu- dierende aller Fachrichtungen, doch weil die Studienzeit irgendwann endet oder Auslandssemester anstehen, ist die Fluktuation groß. Die Aktiven wün- schen sich weiteren Zulauf und dass noch mehr Leute auf sie aufmerksam werden und ihre Hilfe in Anspruch neh- men. Deshalb produziert das Team derzeit einen neuen Imagefilm. Aber woher kommt das Geld? Zwar unter- stützen die Nightline-Stiftung und die Universität die Arbeit, aber seit 2016 fließt weniger Geld in das Projekt. Ein Treffen von Mitarbeiterinnen und Mitar- beitern aller 16 deutschen Nightline- Standorte, das kürzlich in Freiburg stattfand, sei in dieser Hinsicht auf- schlussreich gewesen: Die Teams aus Köln und Heidelberg etwa hätten es geschafft, sehr viele Privatspenderinnen und Privatspender zu gewinnen. Vertrauliche Server Künftig wollen sich die Nightliner deutschlandweit noch mehr vernetzen, um Tipps und Informationen auszutau- schen. Schon jetzt helfen sie einander während der Semesterferien aus und wechseln sich wöchentlich mit bundes- weiten Diensten ab. Außerdem haben Gäste bei der Tagung von einem neuen Angebot berichtet: Chat-Listening. Auch in Freiburg, das 2002 zu den Pionieren der Nightliner gehörte, wolle man darü- ber nachdenken, Online-Chats einzu- führen. Da dem Team Vertraulichkeit und Anonymität über alles gehen, ist es bei seiner Arbeit auf sichere Server an- gewiesen. Auch der geplante Internet- Account für die bundesweite Vernet- zung soll nur über sichere Zugänge zu öffnen sein. Mit Genugtuung haben die Freiburgerinnen und Freiburger vernom- men, dass sie sich von der für 2017 geplanten Vorratsdatenspeicherung ausnehmen lassen können. von Verena Adt Viermal hat der Hartz-IV-Anwärter schon Fristen versäumt und die erforderlichen Unterlagen nicht ein- gereicht. Nachdem sein Antrag ab- gelehnt worden ist, kreuzt er im Büro der zuständigen Sachbearbeiterin auf – ohne Termin und außerhalb der Sprechzeiten, dafür aber in Begleitung seiner Frau und zweier Kleinkinder, die er der entgeisterten Sachbearbeiterin stolz vorstellt. Er will ihr ein Geschenk überreichen, doch die deutsche Beam- tin weist dem Antragsteller, einem Aus- länder, nur knapp die Tür. Der Mann ist perplex: Warum bringt die Frau ihm so wenig Wertschätzung entgegen? Die Sachbearbeiterin wiederum empfindet den überraschenden Besuch, der alle Verfahrensregeln über den Haufen wirft, als Zumutung. Hätte die Sachbearbeiterin gegen- über einem Menschen, der aus einem anderen Kulturkreis kommt, dennoch anders reagieren sollen? Nachdenkli- che Gesichter bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des „Interkulturellen Trainings für den Berufsalltag“, wo die Szene gerade als Rollenspiel aufgeführt wurde. Die etwa 15-köpfige Gruppe, alle Beschäftigte der Universität Freiburg, ist geteilter Meinung: Manche zeigen Verständnis für die Beamtin, andere bekunden Sympathie für den Familien- vater, der kreativ an soziale Regeln he- rangeht. Carolin Nagy, die das Training leitet, nutzt das Beispiel, um einen grundlegenden Konflikt zu erläutern: Das Problem entsteht, weil eine „sach- orientierte“ und eine „beziehungsorien- tierte“ Kultur aufeinandertreffen. Die meisten Teilnehmenden des zweitägigen Trainings haben sich für das Zertifikat „Interkulturelle Kompe- tenz“ angemeldet. Wer das neue Angebot, das sich an Beschäftigte aus Verwaltung und Technik richtet, erfolgreich absolvieren will, muss nicht nur das Training besuchen, son- dern außerdem an einem mindestens fünftägigen Mitarbeiteraustausch mit einer ausländischen Hochschule teil- nehmen und solide Englischkenntnisse nachweisen. Einblicke in Arbeitsabläufe „Mit dem Zertifikat wollen wir Univer- sitätsbeschäftigte ermuntern, sich mit dem Thema Interkulturalität auseinan- derzusetzen, und sie dabei unterstüt- zen, die eigenen interkulturellen Kom- petenzen zu erweitern“, erklärt Ruth Meßmer. Die Fachbereichsleiterin der Internen Fort- und Weiterbildung an der Freiburger Akademie für Universi- täre Weiterbildung (FRAUW) hat das Angebot entworfen. Beschäftigte in den Sekretariaten, aber auch Techni- kerinnen und Techniker in den Labors und Werkstätten seien durch die zu- nehmenden internationalen Beziehun- gen der Universität immer häufiger gefordert, zum Beispiel, wenn es da- rum gehe, ausländischen Gastwissen- schaftlerinnen und Gastwissenschaft- lern Geräte und Arbeitsabläufe – meist auf Englisch – zu erklären. „Den eigenen Blick erweitern“ will Anne Katrin Prowse, eine der Anwär- terinnen auf das Zertifikat. Für die Fremdsprachensekretärin von der Professur für Pflanzenbiotechnologie gehört der Umgang mit ausländischen Wissenschaftlern und Studierenden zum Alltag, ebenso wie die englische Sprache. Im vergangenen Jahr nahm sie an einem Austausch mit der Uni- versität Tel Aviv/Israel teil. „Das hat mir für aktuelle und künftige Koopera- tionen wertvolle Einblicke in die Ver- waltungsabläufe vor Ort verschafft“, berichtet Prowse. Dennoch sieht sie sich beim Umgang mit Gästen aus dem Ausland immer wieder mit Schwierigkeiten konfrontiert. „Zum Beispiel haben Menschen aus dem asiatischen Raum oft Probleme, zuzu- geben, dass sie etwas nicht verstan- den haben. Das ist für sie offenbar ein Gesichtsverlust.“ Sich mit solchen Fragen zu be- schäftigen und im Berufsalltag an Sicherheit zu gewinnen ist Ziel des Trainings. „Deshalb ist das große Inte- resse an dem Zertifikat höchst erfreu- lich“, findet Ruth Meßmer. Das nächste Training ist bereits für den Herbst 2016 geplant. Der Verein Nightline bietet Studierenden mit Sorgen Hilfe am Telefon, per E-Mail und bald vielleicht auch im Chat an Ein neues Angebot schult Mitarbeiter der Universität im Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen Anonym und persönlich Andere Länder, andere Sitten Am Apparat: Bei ihrer Arbeit bleiben die Nightliner immer anonym – und dadurch vertrauenswürdig. Wenn sie Werbe- aktionen veranstalten, schlüpfen sie zum Beispiel in Bärenkostüme. Foto: Klaus Polkowski Kontakt Tel.: 0761/203-9375 Gastwissenschaftler, Studierende, ausländische Kollegen: Der Alltag an der Universität Freiburg wird immer internationaler – interkulturelle Kompetenzen helfen dabei, Missverständnisse zu vermeiden. Foto: oneinchpunch/Fotolia www.nightline.uni-freiburg.de www.pr.uni-freiburg.de/go/zertifikat 032016