05 2013 unı leben Die Zeitung der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg www.leben.uni-freiburg.de 5 von Claudia Füßler Stellen Sie sich ein Hochhaus im Win- ter vor. Unten im Keller befindet sich eine riesige Heizungsanlage, mit vielen Schaltungen und Reglern, die aufeinan- der abgestimmt funktionieren müssen, damit es in jeder Wohnung genau so warm ist, wie es der Mieter haben will“, sagt Thomas Becker. „Damit das klappt, müssen viele Arbeiter die Heizungsan- lage rund um die Uhr am Laufen halten. Jeder muss schon beim Betreten des Heizungskellers die Information erhal- ten, wo genau er hinmuss und was ge- nau er dort zu tun hat.“ Dr. Thomas Becker ist weder Hei- zungsmechaniker, noch glaubt er, dass es Hochhäuser gibt, in denen ein Heer von Arbeitern im Keller werkelt. Der 35-jährige Biologe vom Institut für Biochemie und Molekularbiologie der Universität Freiburg nutzt das Beispiel aber gern, um zu veranschaulichen, was er zurzeit erforscht. Das Hoch- haus ist eine Körperzelle, der Hei- zungskeller ein Mitochondrium, und die vielen Arbeiter sind die Proteine, die ein Mitochondrium zum Funk- tionieren braucht. Becker und seine Kolleginnen und Kollegen interessiert die Frage, wie das System Zelle ge- währleistet, dass ein Protein nicht nur ins Mitochondrium hineingelangt, son- dern auch genau dort landet, wo es hinsoll – bei mehr als 1.000 möglichen Proteinen durchaus eine logistische Herausforderung. Komplexe SAM und TOM Ohne Mitochondrien kann eine Zel- le nicht überleben. Sie stellen unter anderem die Energie für den Zellstoff- wechsel bereit und werden daher oft als die „Kraftwerke der Zelle“ bezeich- net. Ein Mitochondrium ist von zwei Membranen umgeben. Die äußere dieser beiden Schichten stellt die Ver- bindung zum flüssigen Bestandteil der Zelle dar, dem so genannten Zytosol. An der Membran laufen verschiedene Signal- und Transportprozesse ab. Da- mit dies reibungslos funktioniert, sind Membranproteine notwendig, die in die äußere Membran eingebettet sind. „Wie die aber überhaupt da hinkommen, das war lange unklar“, sagt Becker. Man wusste, dass Proteine an Re- zeptoren an der Oberfläche andocken und dann über einen Proteinkomplex – der Fachmann sagt dazu „über eine Translokase“ – in das Mitochondrium gelangen. Der Kern dieses speziellen Proteinkomplexes namens TOM dient als Pore in der Membran; er kann die Proteine an der Außenseite des Mito- chondriums ein- und im Inneren wieder herauslassen. Er ist quasi die Ein- gangstür zum Heizungskeller. Becker und seine Kollegen haben nun her- ausgefunden, was mit den Proteinen geschieht, die nicht für das Innere des Mitochondriums, sondern für die Au- ßenmembran bestimmt sind. Sie wer- den zwar über TOM importiert, doch statt sie durchzuschleusen, gibt der Proteinkomplex sie direkt an einen an- deren Proteinkomplex weiter, der sich ebenfalls in der Außenmembran befin- det. Dieser so genannte SAM-Komplex baut die Proteine in die Membran ein. Die Wissenschaftlerinnen und Wissen- schaftler haben ebenfalls nachweisen können, dass nicht nur Proteinkomple- xe, sondern auch Phospholipide – die Grundbausteine der mitochondrialen Membranen – eine wichtige Rolle bei diesen Transportprozessen spielen. „Es ist faszinierend, sich anzuschau- en, wie solche Dinge auf molekularer Ebene über Interaktionen der Proteine ablaufen“, sagt Becker, der in Kiel Biologie studierte und seine Diplom- arbeit darüber schrieb, wie Proteine in Chloroplasten gelangen. Es be- steht noch viel Forschungsbedarf zur Wechselwirkung der Proteine. Das, was Becker und sein Team betreiben, ist reine Grundlagenforschung – die irgendwann vielleicht einmal ent- scheidende Bedeutung erlangt: Es gibt Krankheiten, die darauf zurück- zuführen sind, dass die Mitochondrien nicht richtig funktionieren, so genannte Mitochondriopathien. „Wenn wir ver- stehen, wie die einzelnen Prozesse funktionieren, sehen wir auch genauer, wo sie gestört sind, und können dort vielleicht eingreifen“, hofft der For- scher. So sei es zum Beispiel denkbar, ein Therapeutikum über den Weg, den auch die Proteine nehmen, in die Mito- chondrien hineinzuschleusen. forschen Eiweiß im Heizungskeller Thomas Becker will herausfinden, wie Zellen dafür sorgen, dass Proteine genau dort im Mitochondrium landen, wo sie hinsollen Arbeitsteilung: Thomas Becker vergleicht die Zelle mit einem Hochhaus. Die Arbeiter halten die Heizungsanlage im Keller rund um die Uhr am Laufen und sorgen dafür, dass jeder Mieter es in seiner Wohnung so warm hat, wie er möchte. Das Hochhaus ist eine Körperzelle, der Heizungskeller ein Mitochondrium, und die vielen Arbeiter sind die Proteine, die ein Mitochondrium zum Funktionieren braucht. ILLUSTRATION: SVENJA KIRSCH Theorie und Experiment zusammenbringen von Jürgen Schickinger Das Higgs-Boson ist die vielleicht bedeutendste Entdeckung in der Teilchenphysik der letzten 50 Jahre“, sagt der Freiburger Physiker Prof. Dr. Karl Jakobs. Materie erhält ihre Masse erst durch Wechselwirkungen mit dem Higgs-Feld. Der Brite Peter Higgs und andere Physiker sagten die Existenz des Teilchens in den 1960er Jahren vorher. Im Oktober 2013 er- hielten Higgs und der belgische Phy- siker François Englert den Nobelpreis für Physik, denn Wissenschaftlerin- nen und Wissenschaftlern gelang es im Sommer 2012 am internationalen Forschungszentrum CERN in Bern/ Schweiz, mit dem Teilchenbeschleuni- ger Large Hadron Collider (LHC) das Higgs-Boson nachzuweisen. Daran seien Doktorandinnen und Doktoran- den vom Freiburger Graduiertenkolleg „Physik an Hadron-Beschleunigern“ maßgeblich beteiligt gewesen, betont Kolleg-Sprecher Jakobs: „Das ist eine große Erfolgsgeschichte.“ Riesige Datenmengen aufspüren Mit dem Graduiertenkolleg rücken die Freiburger Experimentalphysiker und die theoretischen Physiker näher zusammen: Jeder Doktorand bekommt einen Postdoktoranden der jeweils anderen Fachrichtung zur Seite ge- stellt. Das funktioniert gut, bestätigt Nils Ruthmann. Der Doktorand fahn- det nach τ-Leptonen. Diese Teilchen entstehen bei einer der unterschied- lichen Arten, auf die das kurzlebige Higgs-Boson zerfallen kann. Ruth- mann muss die τ-Leptonen in den rie- sigen Datenmengen aufspüren, die der ATLAS-Detektor am LHC bei Teilchen- kollisionen liefert. Zunächst entfernt der Doktorand mit groben Selektions- kriterien für ihn uninteressante Daten. „Das Signal wird von signalähnlichen Untergrundereignissen überlagert“, erzählt er. Diese Störsignale will der Physiker auch mittels statistischer Methoden abtrennen – und mit Unter- stützung. „Aufgrund der Komplexität des Experiments ist Kommunikation das Herzstück der Datenanalyse“, sagt Ruthmann. Anna Kopp arbeitet mit demselben Datenpaket. Die Doktorandin versucht, darin geladene Higgs-Teilchen zu er- spähen. Die kommen derzeit auch in der Theorie vor. „Bisher haben wir noch keine geladenen gefunden.“ Kopp hat den Suchbereich aber schon deutlich eingeengt. Sie hofft, dass ihr der Nachweis noch gelingt: „Das wäre schon toller, da dies ein eindeutiger Hinweis auf ‚neue‘ Physik jenseits un- serer Standardtheorie wäre.“ Theore- tischen Rückhalt erhält sie von Lukas Altenkamp: „Nach dem Zwei-Higgs- Dublett-Modell, mit dem ich arbeite, gibt es positiv und negativ geladene Higgs-Bosonen.“ Der Doktorand er- klärt, dass vor Experimenten am LHC bekannt sein müsse, was dabei nach einem bestimmten Modell passiert. Die Modelle machen also Vorhersagen, lassen allerdings etwas Spielraum. Manche Parameter können verschie- dene Werte annehmen. Was passt noch ins Modell, was nicht? Das ist eine Frage, die Altenkamp beschäftigt: „Ich verbessere die Vorhersagen und rechne etwas aus, das Experimental- physiker anschließend zeigen müssen.“ Bewährt, begehrt, erfolgreich Die Zusammenarbeit zwischen Theo- rie und Experiment im Kolleg sei her- vorragend, lobt Karl Jakobs: „Physik lebt von der gegenseitigen Befruch- tung dieser zwei Felder.“ Aktuell läuft bei der Deutschen Forschungsgemein- schaft, von der das Kolleg finanziert wird, der Antrag auf eine Fortsetzung. Die Sprecherrolle geht von Experimen- talphysiker Jakobs auf einen seiner Kollegen aus der Theorie über, wenn die Bewilligung erfolgt. Die Chancen dafür stehen gut. Das Kolleg hat ei- nen hohen Anteil an weiblichen und ausländischen Promovierenden. Die Teilnahme ist begehrt, das Kolleg erfolgreich. Die Freiburger Teilchen- physiker möchten die Strukturen, die sich bewährt haben, beibehalten, die Verzahnung von Theorie und Expe- riment sogar noch verbessern: Für die Betreuung der Doktoranden des Graduiertenkollegs sollen künftig zwei Professoren zuständig sein – je einer aus beiden Feldern. Die Thematik wird sich nur leicht verfeinern, sagt Karl Jakobs: „Sie fokussiert sich auf die Analyse der Higgs-Physik und die Suche nach supersymmetrischen Materie-Bausteinen.“ Man wusste, dass Proteine an Re- zeptoren an der Oberfläche andocken und dann über einen Proteinkomplex – der Fachmann sagt dazu „über eine Translokase“ – in das Mitochondrium gelangen. Der Kern dieses speziellen Proteinkomplexes namens TOM dient als Pore in der Membran; er kann die Proteine an der Außenseite des Mito- chondriums ein- und im Inneren wieder herauslassen. Er ist quasi die Ein- Arbeitsteilung: Thomas Becker vergleicht die Zelle mit einem Hochhaus. Die Arbeiter halten die Heizungsanlage im Keller rund um die Uhr am Laufen und sorgen dafür, dass jeder Mieter es in seiner Wohnung so warm hat, wie er möchte. Das Hochhaus ist eine Körperzelle, der Heizungskeller ein Mitochondrium, und die vielen Arbeiter sind die Proteine, die ein Mitochondrium zum Funktionieren braucht.braucht. ILLUSTRATION: SVENJA KIRSCHbraucht. Das Higgs-Teilchen erspähen: Der Silizium-Spurdetektor des ATLAS-Experi- ments misst die Bahnen von elektrisch geladenen Teilchen, die in Kollisionen entstehen. Freiburger Wissenschaftler haben viele Module des Detektors gebaut. FOTO: CERN Die Doktoranden des Graduiertenkollegs „Physik an Hadron-Beschleunigern“ waren maßgeblich daran beteiligt, das Higgs-Boson nachzuweisen www.pr.uni-freiburg.de/go/ graduiertenkolleg