01 2016 unı leben Die Zeitung der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg www.leben.uni-freiburg.de 8 Lisa Weber, Betriebswirtschaft „Am besten lernen kann ich an der frischen Luft, etwa in einem schönen grünen Park. Perfekt wäre ein Ort mit Überdachung für Regentage und Heiz- strahlern für kalte Tage. Ich stelle mir gemütliche Sitzgelegenheiten vor, von Büschen umgeben, die Geräusche abschirmen. Auf jeden Fall muss ich schnell an Kaffee und Snacks kommen.“ lernen von Sarah Schwarzkopf Es muss aber ein ‚H‘ sein“, beharrt Günther Klugermann. Acht Köpfe beugen sich konzentriert über das Blatt Papier. „Wofür ist sonst der Haken in der zweiten Zeile?“ Michael Saave rückt die Lesebrille zurecht. „Für mich ist eigentlich eindeutig, dass es ein ‚S‘ ist“, murmelt er in seinen Bart. Alle zwei Wochen treffen sich die Mitglie- der der Archivgruppe, um gemeinsam Texte in alter deutscher Handschrift zu lesen. An diesem Abend sind es die Taufeinträge des Haltinger Kirchen- buchs vom Jahreswechsel 1686/1687. Was daran so interessant ist? Nur wenige Menschen können die Schrift noch lesen. Die angesetzten 90 Minu- ten reichen gerade aus, um die kopier- te Seite zu entschlüsseln. Die Archivgruppe an der Universität Freiburg bietet sowohl Studierenden als auch anderen Interessierten ein Forum, um sich mit Quellen aus der Zeit vom 16. bis 20. Jahrhundert aus- einanderzusetzen, die in Kurrent-, spä- ter in Sütterlinschrift geschrieben sind. „Ein besonderes Interesse bestand bei der Gründung der Gruppe darin, den Fokus von der Geschichte der Herr- schenden auf die Geschichte des Vol- kes zu verschieben“, sagt Wolfgang Weismann, der Kunstgeschichte an der Universität Freiburg studiert und den Kreis seit einigen Monaten leitet. Um die Texte verstehen zu können, müs- sen Leserinnen oder Leser zuerst die Buchstaben der fremden Schriftart ler- nen. Besondere Schwierigkeiten stel- len sich dabei durch die verschiede- nen Schreibstile oder das Gekritzel in Texten für den Alltagsgebrauch. Doch das ist nur die Technik. Ist der Text ein- mal entziffert, stößt man auf vergesse- ne Begriffe und heute unübliche Ab- kürzungen. Das Kürzel „Gev.“ zum Beispiel steht für „Gevatterin“ oder „Gevatter“, wobei es sich um die Tauf- patin oder den Taufpaten eines Kindes handelt. Dazu kommt der historische Hintergrund. Was bedeutete es im Jahre 1686, eine Taufpatin zu sein? Unentdeckte Schatzkisten Es gibt unterschiedliche Gründe für die Mitarbeit in der Archivgruppe, aber die meisten Teilnehmerinnen und Teil- nehmer haben eine Leidenschaft für das Entschlüsseln der alten Texte ge- meinsam. „Es ist einfach toll – als wenn man als Erster eine Schatzkiste ent- deckt“, schwärmt Weismann. Er sei vor vier Jahren auf die Gruppe gestoßen, als er seine Bachelorarbeit schreiben wollte: „Ich schlug im Archiv die Akten auf, mit denen ich arbeiten wollte, und mich traf fast der Schlag. Ich hatte nicht damit gerechnet, erst einmal eine neue Schrift erlernen zu müssen. Da gab es nur zwei Möglichkeiten: aufgeben – oder zur Archivgruppe.“ Andere kamen über die private Ahnenforschung dazu. Der Historiker Klugermann zum Bei- spiel, der zur Vergangenheit Freiburgs und der Region recherchiert, kann sei- ne Familiengeschichte bis ins 13. Jahr- hundert zurückverfolgen: „Einer Sage nach soll damals ein Adliger meines Namens aus Ungarn eingewandert sein. Und tatsächlich hatte Königin Agnes von Ungarn eine Beziehung zu Auggen, wo mein Name zum ersten Mal auf- taucht.“ Auch wissenschaftliche Arbei- ten sind aus dem Kreis hervorgegan- gen. So hat Saave mithilfe eines Totenbuchs Statistiken über häufige Todesursachen und das durchschnittli- che Lebensalter im 17. Jahrhundert er- arbeitet. Anhand der Taufpaten könnte man zum Beispiel die sozialen Netz- werke im Dorf rekonstruieren. Auch Gäste stoßen regelmäßig dazu. „Viele kommen zu uns, weil sie konkrete Hilfe suchen – so wie ich damals. Wir entziffern gemeinsam Texte, mit denen sich die anderen gerade beschäftigen. Dadurch bleiben wir in Übung“, erzählt Weismann. Durch die gemischte Zu- sammensetzung der Gruppe gibt es einen großen Erfahrungs- und Wis- sensschatz. „Da sich viele schon lange mit alten Texten beschäftigen, kann fast immer jemand Hintergrundinforma- tionen geben oder hat eine Anekdote parat. Das ist viel wert.“ Eine Archivgruppe trifft sich regelmäßig, um gemeinsam Texte in Kurrent- und Sütterlinschrift zu entziffern Lesen lernen Buchstabe für Buchstabe: Wolfgang Weismann (vorne) entschlüsselt seit vier Jahren Schriften in der Archivgruppe – seit einigen Monaten ist er deren Leiter. Foto: Klaus Polkowski Impressum uni'leben, die Zeitung der Universität Freiburg, erscheint fünfmal jährlich. Herausgeber Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, der Rektor, Prof. Dr. Hans-Jochen Schiewer Verantwortlich für den Inhalt: Rudolf-Werner Dreier, Leiter Öffentlichkeits- arbeit und Beziehungsmanagement Redaktion Rimma Gerenstein (Redaktionsleitung), Nicolas Scherger, Yvonne Troll Anschrift der Redaktion Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Albert-Ludwigs-Universität Fahnenbergplatz 79085 Freiburg Telefon: 0761/203-8812 Fax: 0761/203-4278 E-Mail: unileben@pr.uni-freiburg.de Auflage 14.000 Exemplare Gestaltung, Layout Kathrin Jachmann Anzeigen Gregor Kroschel Telefon: 0761/203-4986 E-Mail: gregor.kroschel@zv.uni-freiburg.de Druck und Verarbeitung Freiburger Druck GmbH & Co. KG Vertrieb Stabsstelle Öffentlichkeitsarbeit und Beziehungsmanagement Jahresabonnement Euro 9,– ISSN 0947-1251 © Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Namentlich gekennzeichnete Texte geben nicht unbedingt die Meinung des Verlags oder der Redaktion wieder. uni’leben erscheint online unter www.leben.uni-freiburg.de klimaneutral gedruckt Die CO2-Emissionen dieses Produkts wurden durch CO2-Emissions- zertifikate ausgeglichen. Zertifikatsnummer: 311-53210-0310-1003 www.climatepartner.com Playstation, Meeresrauschen und Heizstrahler Was inspiriert? Was lenkt ab? Und was darf auf gar keinen Fall fehlen? Yvonne Troll wollte von Freiburger Studierenden wissen, wie sie sich ihren perfekten Lernort vorstellen. Fabian Bruckert, Spanisch und Sport „Der perfekte Lernraum ist für mich ruhig und ohne Ablenkungsmöglichkei- ten. Ich sollte direkten Zugang zu allen Materialien haben, die ich brauche. Die Universitätsbibliothek finde ich richtig gut zum Lernen. Sie ist hell und die Tische bieten genügend Platz. Auch mit dem schlichten, modernen Ambien- te fühle ich mich wohl.“ Maite von Waldenfels, Soziologie „Mein idealer Ort wäre am Meer, in einer schönen Düne direkt am Strand, natürlich mit Internet und Strom. In der Nähe sollte es Möglichkeiten geben, sich mit leckerem Essen und Geträn- ken zu versorgen. Meine Freunde wären idealerweise auch da, damit wir die Kaffeepausen gemeinsam verbringen können.“ Janina Reimann, Jura „Ich stelle mir einen grünen Sessel vor, in den ich mich hineinkuscheln kann, und ein großes Fenster mit Aus- blick ins Grüne. Und ich möchte von vielen Büchern umgeben sein, die in einem alten, dunkelbraunen Holzregal stehen, das bis an die Decke geht. Das schafft eine gemütliche Atmosphäre. Und ganz wichtig: Schokolade.“ Markus Wunsch, Englisch und Deutsch „Ich muss meinen Geist in Lernpausen auf andere Themen bringen können, indem ich beispielsweise Playstation oder Gitarre spiele. In der Universitäts- bibliothek fehlt ein Keller, in dem es Ver- stärker und Instrumente gibt, mit denen die Leute jammen können. Super wäre auch ein Sofa, auf dem ich mich zwi- schendrin mal bequem hinlegen kann.“ Fotos: Thomas kunz Mitmachen Die Archivgruppe trifft sich wäh- rend des Semesters jeden zweiten Donnerstag um 18 Uhr im Kolle- giengebäude IV (Bibliothek, Raum 4429). Interessierte sind jederzeit willkommen und können auch eigene Schriften mitbringen. Vor- kenntnisse sind nicht erforderlich. Kontakt: Wolfgang Weismann, knowwow@gmx.de www.arbeitskreis-regionalgeschichte.de/ archiv.html 012016