Sprunghafter Denker: Den Titelentwurf zu „Der Wille zur Macht“ aus dem Jahr 1885 oder 1886 verwendete Fried- rich Nietzsche später offenbar als Bücher- und Einkaufsliste. Bild: Wikimedia Com- mons Dabei lernte das Forschertrio viel über Nietz- sches Arbeitsweise, die – so Sommer – extrem selektiv gewesen sei: „Gelesen hat er vor allem das, was er verwerten konnte. In vielen Büchern waren das nur ein paar Kapitel oder 20, 30 Seiten mit seinen Notizen am Rand.“ Von der eigenen Leserschaft habe er aller- dings immer wieder verlangt, seine Bücher geradezu „wiederkäuerisch“ zu lesen. Nietzsche sehnte sich nach Anerkennung und Resonanz. Auch deshalb arbeitete er sich an seinen großen Vorbildern ab – etwa an dem Komponisten Richard Wagner, den er anfangs noch verehrte, gegen den er später aber polemi- sierte, um zugleich sich selbst zum eigentlichen Kulturerneuerer zu stilisieren. Doch der Kom- mentar macht jetzt einen anderen Nietzsche sichtbar. Diese Entdeckung sorgte selbst inner- halb des Forschungsteams für Irritationen: „Ich sehe Nietzsche jetzt nicht mehr als einen Vertre- ter irgendwelcher großer philosophischer Leh- ren“, sagt Sommer. „Sehr viel interessanter ist er für mich, wenn er experimentell bleibt.“ Eine wichtige, wenn auch ambivalente Denker- persönlichkeit war Nietzsche trotzdem. Fernab von allen Systemen sei Nietzsche immer wieder dem spontanen, aphoristisch pointierten Einfall gefolgt, so Neymeyr. „Das kann auch die eige- nen Denkvorgänge stimulieren und aus Denk- routinen herausreißen.“ Nietzsche bleibt also aufregend – mit dem und durch den Kommentar, der als Grundlagenwerk für eine angemessene Einschätzung Nietzsches von fundamentaler Bedeutung sein wird. Prof. Dr. Andreas Urs Sommer wurde nach dem Studium der Philosophie, Kirchen- und Dogmen geschichte sowie der Deut- schen Literaturwissenschaft mit einem philosophie historischen Kommentar zu Nietzsches „Antichrist“ 1998 an der Universität Basel/Schweiz promoviert. Es folgten Stationen an der Universität Princeton/USA und am Philosophischen Institut der Universität Greifswald, wo Sommer 2004 habilitiert wurde. Seit 2008 ist er Wissenschaft licher Kommentator der Forschungsstelle „Nietz- sche-Kommentar“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, seit 2011 außerplanmäßiger Professor für Philosophie an der Freiburger Univer sität. Sommers Forschung konzentriert sich auf die Philosophiegeschichte der Spätantike, der frühen Neuzeit, der Aufklärung und Moderne. Weitere Schwerpunkte sind die Theorie der Philosophie geschichtsschreibung, Skepsis und Stoa, Reli gions- und Geschichts philosophie, Ethik und Friedrich Nietzsche. Prof. Dr. Barbara Neymeyr hat an der Universität Münster Germanistik, Philo- sophie, Latinistik und Päda- gogik studiert, wurde mit einer Arbeit über die Philo- sophie Arthur Schopen- hauers promoviert und im Jahr 2000 mit einer Abhandlung über den österreichischen Schrift- steller Robert Musil habili- tiert. 2006 wurde sie zur außerplanmäßigen Profes- sorin ernannt, seit 2008 ist sie Wissenschaftliche Kommentatorin der Forschungsstelle „Nietz- sche-Kommentar“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Die kreativen Vernetzungen zwischen Philosophie und Literatur faszinieren sie schon seit Langem. Davon zeugt unter anderem eine von ihr mitherausgegebene zweibändige Kulturge- schichte des Stoizismus. Ihre Forschungsschwer- punkte liegen in der deutschsprachigen Litera- tur des 18. bis 20. Jahr hunderts und in der Philosophie des 19. Jahr- hunderts. Zum Weiterlesen Schmidt, J. (2012): Kommentar zu Nietzsches „Die Geburt der Tragödie“. Berlin (= Histori- scher und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken 1/1). Sommer, A. U. (2012): Kommentar zu Nietz- sches „Der Fall Wagner“ und „Götzen-Dämme- rung“. Berlin (= Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken 6/1). Neymeyr, B./Sommer, A. U. (Hrsg.) (2012): Nietzsche als Philosoph der Moderne. Heidelberg (= Akademiekonferenzen 9). 38