02 2015 unı leben Die Zeitung der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg www.leben.uni-freiburg.de 10 von Rimma Gerenstein Aus der Art, wie das Kind spiele, be- hauptete Rudolf Steiner einmal, ließe sich erahnen, wie es später als erwachsener Mensch seine Lebensauf- gabe ergreifen werde. Der Anthropo- sophenfürst ließ viel Streitbares verlau- ten. Aber bei Florence Dancoisne hatte er Recht. Als Mädchen sah sie ihrer Mutter am liebsten beim Nähen zu. Es dauerte nicht lange, bis sie sich selbst am Schneidern versuchte. Den richtigen Stoff auswählen, den passenden Schnitt finden, die unzähligen Details des Hand- werks beachten: „Wenn man etwas Neues schaffen will, braucht man einen langen Atem“, sagt sie. Diese Ausdauer kommt ihr heute zugute: An der Albert- Ludwigs-Universität ist Dancoisne für den European Campus zuständig – einen grenzüberschreitenden Hochschul- und Forschungsraum am Oberrhein, an dem neben Freiburg die Universitäten in Basel, Strasbourg Karlsruhe und Mulhouse- Colmar beteiligt sind. Die Idee der grenzüberschreitenden Kooperation besteht seit einem Vier- teljahrhundert: Der Verbund Eucor er- möglicht Forschenden und Studieren- den aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz eine Zusammenarbeit auf vielen Ebenen. Doch nun soll der Eu- ropean Campus an Antrieb gewinnen: Die fünf Universitäten haben eine neue Strategie beschlossen, und Dancoisne ist Teil eines Teams von Koordinatorin- nen und Koordinatoren, die das Kon- zept Stück für Stück umsetzen sollen. „Es kann einem schon schwindlig werden bei dem Gedanken, wie viel Neues wir nun gestalten dürfen“, sagt sie. Die Kooperation soll Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Studierenden mehr Möglichkei- ten eröffnen. Doch Dancoisne macht oft die Erfahrung, dass viele das An- gebot noch nicht kennen. „Deswegen muss ich mit der Basis sprechen – den European Campus kann es nur geben, wenn die Menschen ihn nutzen wollen.“ Nahe und ferne Ziele Die Koordinatorin arbeitet an An- trägen mit, die den Grundgedanken des Projekts verwirklichen sollen: ge- meinsame Professuren, Abschlüsse, Studierende und Promovierende, ge- meinsames Personal und gemeinsame Servicestellen. Geplant sind außerdem eine Großinfrastruktur auf dem Gebiet der Bio-Innovation-Technologie und ein Kompetenznetzwerk für Nachhaltigkeits- forschung. „Manche Ziele nehmen wir schon in der ersten Reihe von Förder- anträgen in Angriff, andere können wir erst in zehn oder 15 Jahren umsetzen.“ Das Antragschreiben beherrscht die Koordinatorin: Sie war Teil des Teams, das in der Exzellenzinitiative 2012 mit dem Konzept für „BrainLinks-Brain- Tools“ die Gutachterinnen und Gutach- ter überzeugte. In dem Cluster arbeiten unter anderem Wissenschaftler aus der Biologie, Medizin und Informatik zusammen. Zuvor koordinierte sie das neurowissenschaftlich ausgerichtete Bernstein Center Freiburg, das sie mit- aufgebaut hatte. Mit Menschen unter- schiedlicher Disziplinen zu verhandeln, ihre Interessen zu erkennen und zusam- menzuführen, bezeichnet Dancoisne als ihre Stärke. Auf dieses Talent vertraut sie auch, wenn sie zweimal die Woche nach Strasbourg reist oder die Kollegin- nen und Kollegen aus dem Dreilände- reck in Freiburg empfängt. Wie der Stoff fällt Auch zwischen unterschiedlichen Kulturen zu leben, ist für die Mutter zweier deutsch-französischer Töchter nicht ungewöhnlich. Geboren wurde sie in einem Vorort einige Kilometer west- lich von Paris – „so klein, dass er kein eigenes Leben hatte.“ In Grenoble legte sie ihr Abitur ab und studierte anschlie- ßend Klassische Geisteswissenschaf- ten. Doch in Frankreich fühlte sie sich nicht wohl. „Das Umfeld war zu ver- schult und angepasst.“ Die Großeltern schenkten ihr einen Deutschsprachkurs im österreichischen Graz. „Ich moch- te es, Ausländerin zu sein – da wird von einem erwartet, dass man unan- gepasst ist“, erinnert sie sich lachend. Sie studierte ein Jahr in Stuttgart, dann schrieb sie sich an der US-amerikani- schen Universität St. Louis für einen Master in Anglistik ein. Um sich zu fi- nanzieren, jobbte sie in der Bibliothek auf dem Campus. „Die Bezahlung war schlecht und der Job langweilig, aber ich hatte jeden Tag Bücher in der Hand, von denen ich noch nie gehört hatte.“ Ende der 1990er Jahre kehrte Dancoisne nach Deutschland zurück, um zu promovieren. Der gute Ruf der Anglistik hatte sie nach Freiburg ge- lockt. Sie hörte von „so einem Eucor- Ding“ und wünschte sich, Vorlesungen in Basel und Strasbourg zu besuchen. „Aber ich hatte kein Stipendium und musste Geld verdienen, solche Ausflüge waren nicht drin.“ Dass sie sich für eine Laufbahn in der Verwaltung entschieden hat, bereut Florence Dancoisne heute nicht, aber manchmal stimmt es sie wehmütig, dass es mit der Promotion nicht geklappt hat. Dann erinnert sie sich daran, was sie beim Nähen gelernt hat: „Wenn der Stoff nicht so fällt, wie du es dir vorgestellt hast, mach’s neu.“ von Anita Rüffer Eigentlich hatten ihm Sprachen, Ge- schichte und Politik nähergelegen. Jetzt hat Matthias Breitwieser sowohl ein Bachelor- als auch ein Masterstu- dium in Mikrosystemtechnik hinter sich und promoviert am Institut für Mikro- systemtechnik (IMTEK) der Universität Freiburg über poröse Medien – „so ein Energiewendeding“, bei dem es darum geht, Wasserstoff-Brennstoffzellen zu verbessern. „Es erschien mir leichter, statt Geisteswissenschaften was Tech- nisches zu studieren und mich neben- her politisch und gesellschaftlich zu engagieren“, erklärt Breitwieser seinen Sinneswandel – ganz abgesehen da- von, dass auch Ökologie und Energie- wende zu seinen Herzensangelegen- heiten gehören. Anstoß für nachhaltige Strukturen Schon während der Schulzeit in Lindau hat sich der Sohn eines Lehrer- ehepaars gesellschaftlich engagiert: mal ein Benefizkonzert für einen gu- ten Zweck organisiert oder in der Ju- gendarbeit eine Web-Plattform für Ju- gendliche gestartet – „quasi Facebook anno 2005“. Seit er vor einigen Jahren zu der Organisation „Ingenieure ohne Grenzen“ (IoG) stieß, ist sein Enga- gement beständiger geworden. „Sie verknüpft am besten, was mir wichtig ist.“ 2013 beispielsweise brachte er mit der Freiburger Regionalgruppe von IoG in Haiti Berufsschülerinnen und Berufsschülern die Fotovoltaik in Theorie und Praxis näher. Drei Wo- chen später ratterte in einem Heim für Waisenkinder in der Hauptstadt Port-au-Prince kein Dieselgenerator mehr für die Stromerzeugung, sondern das Haus wurde mit Sonnenenergie versorgt. Breitwieser unterrichtete übrigens in der Landessprache Fran- zösisch: Ein Jahr Frankreichaufenthalt während der Schulzeit und ein halbes Jahr im Rahmen des europäischen Hochschulprogramms Erasmus waren dafür eine gute Vorbereitung. „Wir leisten technische Entwick- lungszusammenarbeit, keine Not- fallhilfe“, betont der 27-Jährige. „Wir setzen kleine, einfach zu handha- bende Modellprojekte in Gang, die einen Anstoß geben können, vor Ort nachhaltige Strukturen auszubilden.“ Wie freute es ihn, als er hörte, dass „seine“ Berufsschüler mittlerweile ge- werbsmäßig in die Fotovoltaikbranche eingestiegen sind. Gerade sind wie- der drei Leute aus seiner Gruppe auf Erkundungstour – in einer ländlichen Region Haitis, die vom verheerenden Erdbeben 2010 weitgehend verschont geblieben ist. Für 300 Bewohnerinnen und Bewohner eines stark zersiedel- ten Dorfes soll die Wasserversorgung leichter werden. Die Ingenieurinnen und Ingenieure nehmen Wasser- proben, reden mit der Bevölkerung sowie mit Behörden und prüfen die geografischen Gegebenheiten, um die beste Lösung zu finden: Leitungen verlegen, neue Zisternen bauen oder alte reparieren. „Das ist erst mal völlig ergebnisoffen.“ Es könne auch sein, dass ein örtliches Unternehmen mit der Ausführung betraut wird. „Viel wichtiger als die Technik sind die Kommunikation und das Zwischen- menschliche“, sagt Breitwieser. Er fände es „super, auch Geisteswissenschaft- lerinnen und Geisteswissenschaftler in unserer Gruppe zu haben“, zum Beispiel aus der Ethnologie oder So- ziologie: „Wir sind alle soziologische Autodidakten.“ IoG ist eine Organisation mit etwa 30 Regionalgruppen in Deutschland. Alle arbeiten ehrenamtlich, berichtet Breitwieser – nur in der Zentrale in Berlin seien ein paar Festangestellte, die die ausschließlich über Spenden finanzierten Projekte koordinieren und für die Qualitätskontrolle sorgen. Akquiriert und umgesetzt werden die Vorhaben von den lokalen Gruppen. Zur Blauäugigkeit lassen sich die Mitglieder von ihrem Idealismus nicht verführen: „Es gibt krasse Negativbei- spiele dafür, wie viel Quatsch passiert.“ In Bangladesch zum Beispiel, wo mit viel Geld und gutem Willen beim Brun- nenbau arsenverseuchtes Grundwas- ser angezapft wurde – mit der Folge, dass die Zahl der mit einer Behinde- rung geborenen Kinder dramatisch anstieg. „Wir versuchen unsere Projekte so gut wie möglich hinzukriegen“, sagt Breitwieser, „und müssen uns selbst immer wieder hinterfragen.“ „Wichtiger als die Technik ist die Kommunikation“ Matthias Breitwieser engagiert sich bei „Ingenieure ohne Grenzen“ menschen Als Koordinatorin eines länderübergreifenden Projekts besteht Florence Dancoisnes Stärke darin, zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen und Disziplinen zu vermitteln. Foto: Thomas Kunz Erneuerbare Energien nutzen: Matthias Breitwieser hat Berufsschülern aus Haiti die Fotovoltaik in Theorie und Praxis nähergebracht. Foto: Thomas Kunz www.ingenieure-ohne-grenzen.org/ de/regionalgruppen/freiburg Grenzgängerin an der Basis Florence Dancoisne hilft dabei, den European Campus am Oberrhein zu etablieren www.eucor-uni.org 022015