02 2015 unı leben Die Zeitung der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg www.leben.uni-freiburg.de 9 von Martin Jost Mit der Seniorität kommt die Ge- lassenheit. „Je älter ich werde“, schreibt Prof. Dr. Ute Guzzoni in ih- rem neuen Buch, „desto mehr nimmt meine Empfindlichkeit und Skepsis gegenüber dem Entwerfen und Kon- struieren von allgemeinen Theorien zu.“ So verzichtet die 80-jährige eme- ritierte Freiburger Philosophieprofes- sorin in „Im Raum der Gelassenheit“ auf Pflichtübungen des akademischen Schreibens. Sie umrundet ihr Thema „Gegensätze“ in 45 kleinen Essays. Gegensatzpaare sind laut der Phi- losophin zu unterschiedlich, um sie in eine gemeinsame Systematik einzu- passen. Die eine Sorte Gegensätze verbindet ein stufenloser Übergang – zum Beispiel hell versus dunkel –, während andere ausschließlich das Eine oder das Andere sind, etwa Le- ben versus Tod. Dann gibt es noch Gegensätze, die nicht in der Natur an- gelegt sind, sondern vom Menschen als solche gedacht werden, zum Bei- spiel Wüste versus Meer. Guzzoni findet ihr Thema in der Er- kundung des Raumes, in dem die Ge- gensätze existieren. Dieser gedachte metaphysische Raum lässt offensicht- lich beide Extreme eines jeden Paa- res zu, und sei es der Gegensatz aus Etwas und Nichts. Die Wissen- schaftlerin nennt ihn den „Raum der Gelassenheit“. „Gelassenheit“ steht unter anderem für das Akzeptieren von Gegensätzen und für das Zulas- sen ihrer Verbindung in ihrer innigen Gegensätzlichkeit. Die abendländische Philosophie stößt an ihre Grenzen Ein Gegensatz, dem sich Guzzoni seit vielen Jahren widmet, ist der zwi- schen Begriff und Bild. Der Begriff, das klare Konzept, werde in der abendlän- dischen Philosophie gegenüber dem Bild, dem poetischen Denken, bevor- zugt. Häufig streut Guzzoni asiatische Philosophien ein, um deutlich zu ma- chen, dass der Westen sich einer kul- turspezifischen Art des Nachdenkens bedient, die ihre Grenzen hat. Guzzoni verzichtet nicht nur auf Theorien, sondern auch auf einen Lite- raturüberblick. Die meisten der Kapitel sind Analysen von Primärtexten. Dem Philosophieren in Bildern verschrie- ben, untersucht sie neben der Poesie Werke der bildenden Kunst, Land- schaften und Tiere. Die ganze Welt wird der Philosophin zur Leseliste. Bilder sind laut Guzzoni im Gegen- satz zur Begrenztheit der Begriffe offen und lassen ihrem Gegenstand seine Freiheit. Aufgrund ihrer hoch- verdichteten Sprache, die nichts dem Zufall überlässt, sind Guzzonis Bilder aber keineswegs unscharf oder gar an- archisch. Offen bleibt in ihren essayis- tischen Erkundungen genau das, was sie offen lassen will. Mit Gelassenheit geht große Souveränität einher. Mehr als 6.000 Museen locken in Deutschland mit unzähligen Exponaten und Angeboten. Doch was bewegt Besucherinnen und Besucher dazu, vor einem Objekt stehenzubleiben? Dr. Christian Wa- cker, wissenschaftlicher Leiter der neuen Weiterbildung „museOn“, hat Rimma Gerenstein erzählt, wa- rum sogar eine Schale mit Äpfeln interessant sein kann. uni’leben: Herr Wacker, der russi- sche Regisseur Konstantin Stanis- lawski sagte einmal: „Es gibt keine kleinen Rollen, nur kleine Schau- spieler“. Könnte man behaupten, es gibt keine langweiligen Exponate, nur langweilige Präsentationen? Christian Wacker: Ja, das kann ich unterschreiben. Viele Ausstellungen be- schäftigen sich mit alltäglichen Dingen. Denken Sie zum Beispiel an ein Sport- museum, in dem ein Schal präsentiert wird. Das ist an sich nicht spannend. In- teressant wird es aber, wenn der Schal die Geschichte von einem Fan erzählt, der seit 30 Jahren seine Mannschaft anfeuert. Oder die Schale mit Äpfeln, die auf dem Tisch steht: Da gibt es El- star, Braeburn und Jonagold. Wenn wir die Sorten ordnen, könnten wir die Kul- turgeschichte der Apfelzucht erzählen. Es ist also wichtig, über Men- schen und Erlebnisse zu berichten anstatt über Dinge? Es ist wichtig, Themen zu präsentie- ren, in denen sich die Besucher wie- derfinden. Nicht jedes Museum hat das Glück, eine Mona Lisa ausstellen zu können – bei solchen Kunstwerken kommen die Leute automatisch. Bei unserer Weiterbildung stehen die klei- nen Ausstellungshäuser im Mittelpunkt, zum Beispiel Museen, die das Leben einer Stadt mit 8.000 Einwohnerinnen und Einwohnern zeigen. Dort müssen die Angestellten die Themen finden, die in die Gemeinde wirken, etwa ein traditioneller Feiertag. Dann müssen sie den richtigen Weg wählen, ein Ob- jekt zu präsentieren, etwa indem sie einen Text schreiben, einen Film zei- gen oder einen Audioguide einsetzen. Kann ein Museum auch abstrakte Forschung verständlich vermitteln? Das ist eine wichtige Aufgabe. Es gibt immer mehr Science Center, die den Leuten Mathematik, Chemie oder Physik durch Experimente und Erleb- nisse näherbringen, sie zum Mitmachen einladen. Ein Museum ist kein Buch, in dem der Besucher blättern kann. Des- wegen ist es wichtig, Inhalte herauszu- greifen und pointiert zu zeigen. Haben es die Geisteswissen- schaften schwerer als die Natur- wissenschaften oder die Technik? Mit Goethe kann man nur schwer gegen einen Roboter bestehen. Nicht unbedingt. Ein Buch auszustel- len mag vielleicht langweilig sein. Aber wenn jemand in Goethe-Tracht Gedichte rezitiert, wird es schon interessanter. Selbst die genialste Maschine wird die Besucher nicht interessieren, wenn sie sie nicht verstehen. Um Wissenschaft zu kommunizieren, müssen sich viele Köpfe an einen Tisch setzen und ein gemeinsames Konzept erarbeiten – von den Forschern über die Künstler bis zu den Museumspädagogen. Sie haben unter anderem in Deutschland, Brasilien, Griechen- land, Katar und China Ausstellun- gen betreut. Sind Ihnen Kultur- unterschiede bei den Besuchern aufgefallen? Ja, denn die Mentalitäten prägen die Sehgewohnheiten der Menschen. Von den Deutschen behauptet man ja, dass sie sich jedes Objekt systema- tisch anschauen und jede Zeile durch- lesen. Sie wollen das Erlebnis kom- plett aufsaugen. In der Türkei oder in Griechenland hatte ich den Eindruck, dass das keine Rolle spielte: Die Leute schauten sich nur ein oder zwei Sa- chen an und waren dann draußen. Ist der Museumsbesuch damit verschenkt? Überhaupt nicht. Auch zehn Minuten können wertvoll sein. Wenn ich mich wirklich auf etwas einlasse, nehme ich mehr mit als bei einem Pflichtrundgang. kompass Die Welt als Leseliste Ganz schön exponiert Nicht jedes Museum kann mit Kunstwerken von Weltrang aufwarten – für eine spannende Ausstellung braucht man sie ohnehin nicht unbedingt Ute Guzzoni erforscht den „Raum der Gelassenheit“, in dem sich Gegensätze aufheben Ute Guzzoni: Im Raum der Gelassenheit: die Innigkeit der Gegensätze. Verlag Karl Alber, Freiburg 2014. 184 Seiten, 24 Euro. Weiterbildung für Arbeit in Museen Online-Lehre, Webpräsenz, Block- seminare vor Ort: Mit „museOn – weiter- bildung & netzwerk“ entwickelt die Universität Freiburg ein im deutsch- sprachigen Raum einmaliges Weiter- bildungsangebot, das sich an Berufs- tätige in Museen, Sammlungen und Galerien richtet. Die Studierenden können zu Beginn des Jahres 2016 die ersten Module testen. Ab 2018 sollen mehr als 40 Angebote zur Auswahl stehen, die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach ihren persönlichen Interessen und Bedürfnissen frei kom- binieren können – von Objektlagerung über Optimierung von Besucherlebnis- sen bis hin zu Museumsethik und Krisenmanagement. www.museon.uni-freiburg.de Jede Textzeile lesen oder durch die Ausstellung rasen? Die Kultur eines Menschen prägt seine Sehgewohnheiten, erklärt Christian Wacker. FOTO: THOMAS KUNZ Probanden für Studie zu Kinderängsten gesucht Das Institut für Psychologie der Uni- versität Freiburg sucht für eine Studie Kinder im Alter zwischen neun und 13 Jahren mit schwächeren und starken Ängsten. Viele Kinder fürchten sich zum Beispiel vor Gewitter, Dunkelheit oder dem Alleinsein. Andere trauen sich nicht, vor der Klasse zu sprechen oder auf fremde Kinder zuzugehen. Doch was passiert, wenn diese Ängste im Laufe der Zeit nicht besser werden? Das Projekt will die Ursachen von Angsterkrankungen bei Heranwach- senden untersuchen, um wirksamere und kindgerechte Therapien zu ent- wickeln. Die Studie setzt sich aus drei Untersuchungen zusammen, die je- weils ein bis zwei Stunden dauern und über einen Zeitraum von zwei bis vier Wochen stattfinden. Als Dankeschön erhalten die Kinder einen Gutschein über 70 Euro. Ihre Eltern bekommen 30 Euro in bar. www.kinderaengste.uni-freiburg.de/ index.html Erfahrungen mit Krankheit teilen Das kostenlose Online-Portal „krankheitserfahrungen.de“ sucht Teil- nehmerinnen und Teilnehmer für eine Studie zum Thema Darmkrebs: Ziel ist es, herauszufinden, inwieweit die In- ternetseite Betroffenen den Umgang mit der Erkrankung erleichtern kann. Teilnehmen können Patientinnen und Patienten, die innerhalb der vergange- nen drei Jahre erstmals an Darmkrebs erkrankt oder von Metastasen oder Rückfällen betroffen sind. Das Portal bietet Erfahrungsberichte von Patienten, vermittelt Informationen zu Krankhei- ten und soll Betroffene bei der Bewäl- tigung der Krankheit unterstützen. Als Ergänzung zu den schon existierenden Modulen Chronischer Schmerz, Dia- betes Typ 2, Epilepsie und chronisch- entzündliche Darmerkrankungen hat das Projektteam vom Institut für Psy- chologie der Universität Freiburg und der Berlin School of Public Health der Charité – Universitätsmedizin Berlin im April 2015 zwei neue Module zu Brust- und Prostatakrebs veröffentlicht. www.darmkrebsstudie-charite.de www.krankheitserfahrungen.de Ute Guzzoni: 022015