05 2015 unı leben Die Zeitung der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg www.leben.uni-freiburg.de 7 „Anno Domini: Europa“, Abacus Spiele, 13,99 Euro. campus von Rimma Gerenstein In der Serie „Abgezockt!“ treffen sich Redaktionsmitglieder von uni’leben mit Forscherinnen und Forschern der Universität Freiburg zu einer Spiel- partie. Ziel ist, beliebte Gesellschafts- spiele aus wissenschaftlicher Pers- pektive zu beleuchten – freilich mit einem Augenzwinkern. Das Spiel „Anno Domini“ enthält unzählige Kurio- sitäten aus der Weltgeschichte. Auf der einen Seite der Kärtchen steht das Er- eignis, auf der anderen das dazugehö- rige Jahr. Die Spielerinnen und Spieler müssen sie in der chronologisch rich- tigen Reihenfolge anordnen. Zweifelt jemand aus der Runde den Zeitstrahl an, beginnt das Haareraufen: Jahres- zahlen werden gelüftet, Strafkarten verteilt, Bildungslücken aufgedeckt, Fäuste geschwungen, wissenschaftli- che Karrieren zerstört. Die Spieler Dr. Andre Gutmann, Dr. Heinz Krieg: Mittelalterliche Geschichte I und Abteilung Landesgeschichte Nicolas Scherger: Presse- und Öffent- lichkeitsarbeit Der Ablauf „Das Spiel hat überhaupt nichts mit Ge- schichte zu tun!“ Sein Ärger, gibt Krieg lachend zu, könnte auch eine Trotz- reaktion sein. Wie seine Mitspieler hat er mit neun Karten begonnen. Würde sein Kollege Gutmann, ausgewiesener „Anno-Domini“-Connaisseur, nur nicht ständig seine Chronologie anzweifeln und als falsch entlarven. Eine Straf- karte nach der anderen flattert Krieg in die Hände, aber er verzagt nicht. Er will das Ereignis „In Spanien begegnen sich die Schwarzkopf- und die Weiss- kopf-Ruderente“ in den Zeitstrahl ein- ordnen – für einen Historiker, der akri- bisches Arbeiten gewohnt ist, gar nicht so einfach. „Was verstehen die denn unter ‚Spanien‘? Meinen sie wirklich Spanien, oder meinen sie die Iberische Halbinsel?“ Auch Gutmann missfällt der Mangel an Präzision: „Das Pilsner Bier wird gebraut“ steht auf seiner Karte. Er kratzt sich am Kopf. „Das ist ja zwischen irgendwann und heute.“ Krieg entscheidet sich für eine scheinbar eindeutige Begebenheit: „In Valencia wird das erste Haus für Menschen mit psychischen Störungen eröffnet.“ Gutmann ist am Zug. Den Psychiatrievor- läufer vermutet er im 17. oder 18. Jahrhundert (Tat- sache: 1410). Doch Sou- veränität ist alles. Der His- toriker schaut auf seine Karten und spielt seine Op- tionen durch: Dass Stock- holm/Schweden mal die Stadt mit der weltgrößten Telefon- dichte war, verortet er im 20. Jahrhundert (Tatsache: 1885). Die Schlacht auf dem Amselfeld siedelt er im Mittelalter an (stimmt: 1389). Schwieriger wird es mit den Zuchthennen, deren grüne Eier 30 Prozent weniger Cholesterin als üblich enthalten. Er entscheidet sich für eine Errungenschaft des Industrie- zeitalters: Die größten Containerschif- fe laufen in der dänischen Werft von Odense ein – eindeutig nach der Eröff- nung der Psychiatrie. Scherger ist am Zug und geht auf Nummer sicher: „zum ersten Mal erlebt ein Europäer die Ehre, dass ein Monat nach ihm be- nannt worden ist“, liest er vor. „Irgend- ein römischer Kaiser wird es gewesen sein“, mutmaßt der Redakteur, „Julius oder Augustus“. Er datiert das Ereignis auf die Antike zurück und legt die Karte an den Anfang der Chronologie. Der Zeitstrahl wächst. So weit, so rich- tig? Es dauert nicht lange, bis wieder ein schwaches Glied in der histori- schen Kette verdächtigt wird. J’accuse! Es wird angezweifelt. Gemeinsam hat- ten die Historiker die Schwarzkopf- Ruderente in die Bronzezeit verfrachtet. Tatsache: Erst vor 15 Jahren wurde der Vogel aus Amerika über England nach Spanien eingeführt. Nun gut, die Bio- logie, trösten sie sich, sei nicht ihr Beritt. Dafür gelingt Krieg bei der osteuropäischen Verkehrsgeschichte eine Punktlandung: Seine letzte Karte „Die Russen bauen eine Eisenbahn ins Nie- mandsland am Polarmeer“ positioniert er an der richti- gen Stelle und gewinnt. Die Analyse Krieg und Gutmann sind sich einig: Obwohl Historikerinnen und Historiker die obskuren Ereignisse nur zufällig richtig datieren könnten, basiere das Spiel auf dem verlässlichsten System der Geschichtswissenschaft – dem chronologischen Denken. Ein Zeitstrahl helfe dabei, Ordnung zu schaffen, Veränderungen aufzuzeigen und ein Gespür für Plausibilität zu ent- wickeln. Gutmann könnte sich vorstel- len, dass das Spiel – zugeschnitten auf die Vorbedingungen, Beteiligten und Folgen eines historischen Ereig- nisses – auch in der Lehre einsetzbar wäre: „Alle Studierenden im Seminar wären gefordert und müssten erklären, warum sie eine Chronologie fortschrei- ben oder wo und weshalb sie einen Fehler vermuten.“ Außerdem schärfe „Anno Domini“ das Verständnis für die Bedeutung histori- scher Fußnoten. „Es gibt keine irrele- vanten Themen in der Geschichte“, betont Krieg. „Warum sollte die Krö- nung Karls des Großen zum Kaiser von vornherein wichtiger sein als die erste überlebensgroße Helvetia-Statue aus Schokolade, die der Schweizer Unternehmer Suchard bei der Weltaus- stellung in Paris präsentierte?“, wie es auf einem Kärtchen steht. Kein Ereignis sei an sich weltbewegend – die Relevanz werde erst in der Rück- schau hergestellt, von politischen Interessen oder kulturellen Trends be- stimmt. Es komme immer auf die Per- spektive an: „Angenommen, jemand will die Wirtschafts- und Kultur- geschichte der Schweiz im 19. Jahr- hundert untersuchen“, sagt Gutmann. „Dafür könnte die Präsentation der Helvetia-Statue ein entscheidender Moment sein.“ Wer in Freiburg Ge- schichte studiere, merke schnell, dass es keinen Kanon, sondern gleichrangige Forschungsinteressen gebe. In diesem Sinne profitieren auch die beiden For- scher von der Spielpartie. Vielleicht können sie bei der nächsten Konferenz mit ihrem Wissen über das erste Fach- buch über Fußpflege glänzen (1785). „Zwischen irgendwann und heute“ Warum historische Fußnoten in der Geschichtswissenschaft keine Mauerblümchen sind Zwischen Theorie und Praxis liegt nur das Höllental. Informieren Sie sich jetzt über die zahlreichen Einstiegsmöglichkeiten für Studierende und Absolventen bei der Testo AG. www.testo.de/jobs psychischen Störungen eröffnet.“ Gutmann ist am Zug. Den Psychiatrievor- läufer vermutet er im 17. oder 18. Jahrhundert (Tat- sache: 1410). Doch Sou- veränität ist alles. Der His- toriker schaut auf seine Karten und spielt seine Op- tionen durch: Dass Stock- holm/Schweden mal die Stadt mit der weltgrößten Telefon- dichte war, verortet er im 20. Jahrhundert (Tatsache: 1885). Die Schlacht auf dem Amselfeld siedelt er im Mittelalter an (stimmt: 1389). Schwieriger wird es mit den Zuchthennen, deren grüne Eier 30 Prozent weniger Cholesterin als üblich enthalten. Er entscheidet sich für eine Errungenschaft des Industrie- zeitalters: Die größten Containerschif- fe laufen in der dänischen Werft von Odense ein – eindeutig nach der Eröff- nung der Psychiatrie. Scherger ist am oder Augustus“. Er datiert das Ereignis auf die Antike zurück und legt die Karte an den Anfang der Chronologie. Der Zeitstrahl wächst. So weit, so rich- tig? Es dauert nicht lange, bis wieder ein schwaches Glied in der histori- schen Kette verdächtigt wird. J’accuse! logie, trösten sie sich, sei nicht ihr Beritt. Dafür gelingt Krieg bei der osteuropäischen Verkehrsgeschichte eine Punktlandung: Seine letzte Karte „Die Russen bauen eine Eisenbahn ins Nie- mandsland am Polarmeer“ positioniert er an der richti- gen Stelle und gewinnt. Die Analyse Krieg und Gutmann sind sich einig: Obwohl Historikerinnen und Historiker die obskuren Ereignisse nur will die Wirtschafts- und Kultur- geschichte der Schweiz im 19. Jahr- hundert untersuchen“, sagt Gutmann. „Dafür könnte die Präsentation der Helvetia-Statue ein entscheidender Moment sein.“ Wer in Freiburg Ge- schichte studiere, merke schnell, dass es keinen Kanon, sondern gleichrangige Forschungsinteressen gebe. In diesem Sinne profitieren auch die beiden For- scher von der Spielpartie. Vielleicht können sie bei der nächsten Konferenz mit ihrem Wissen über das erste Fach- buch über Fußpflege glänzen (1785). Die Portugiesen bauen die erste Zuckermühle auf den Azoren. Aber war das bevor oder nachdem die Eselsdistel zu Schottlands Nationalblume erhoben wurde? Andre Gutmann und Heinz Krieg (von links) brüten über ihren Karten. FOTO: PATRICK SEEGER www.abacusspiele.de FoTo: SaNDRa MEYNDT 052015