Die Zeitung der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg www.leben.uni-freiburg.de 06 2013 Wissenschaftshorizonte: FRIAS erhält Förderung > S.3 Weihnachten: Forscher erklären Phänomene des Fests > S.4 Weltraumwetter: Physiker untersucht Sonnenstürme > S.7 von Rimma Gerenstein David Kepesh ist ein Hypo- chonder vor dem Herrn. Ei- nes Morgens hat der Literaturpro- fessor aber ein echtes Problem. Er verwandelt sich in eine 70 Ki- logramm schwere Frauenbrust. Schmecken, riechen und sehen kann der 38-Jährige nicht mehr, aber durch die Brustwarze hört er gedämpft Gespräche und Ge- schichten, die sich die Menschen erzählen. Gegen diesen fleisch- gewordenen freudschen Fetisch, den der Schriftsteller Philip Roth in einem Roman ersinnt, erscheint Franz Kafkas Erzählung, in der sich der Protagonist in einen Käfer verwandelt, fast wie ein züchtiger Schulaufsatz. Doch beide Autoren nutzen denselben Trick: Sie spie- len mit Gegebenheiten, die es nicht geben kann. Solche Szenarien haben einen Sinn, sagt der Freiburger Anglist Dr. Jan Alber. In seiner Habili- tation hat der Privatdozent sich mit unmöglichen Welten in der englischsprachigen Literatur der Postmoderne beschäftigt – mit Theaterstücken, Erzählungen und Romanen, die ab den 1960er Jahren entstanden sind und einen unwirklichen und unlogischen Kosmos entwerfen. Alber hat drei Spielarten herausgefiltert: physikalische Unmöglichkeiten, wie sie zum Beispiel in Roths Roman „Die Brust“ vorkommen; logische Widersprüche wie in Graham Priests Kurzgeschich- te, in der es um eine Schachtel geht, die leer und gleichzeitig voll ist; und menschliche Unmöglich- keiten, etwa in Salman Rushdies Roman „Mitternachtskinder“, in dem der Inder Saleem Sinai wie ein Radioempfänger die Gedan- ken anderer hört. Papageien und eifersüchtige Ehemänner „Mich hat interessiert, was der menschliche Verstand macht, wenn realweltliche Erklärungen versagen“, betont der Literatur- wissenschaftler. Die Geschichten forderten Leserinnen und Leser heraus: „Sie müssen sich kognitiv damit auseinandersetzen, wie es wäre, wenn Gegenstände spre- chen könnten oder wenn die Zeit rückwärts laufen würde.“ So trage die Literatur dazu bei, neue Mus- ter des Wahrnehmens und Erken- nens zu erzeugen. Der Anglist hat sich nicht nur mit der Postmoderne befasst. Er untersuchte, wie sich das Unna- türliche in der Literatur im Laufe der Epochen und Jahrhunderte entwickelte und veränderte – von religiösen Texten aus dem Mittel- alter bis zu Fantasy-Helden der „Harry Potter“-Romane. „Die spie- lerischen Nihilisten des 20. Jahr- hunderts haben die unmöglichen Welten nicht erfunden. Aber bei ihnen erfüllen die Szenarien eine andere Funktion.“ Triebkraft hinter neuen Genres In einer Kurzgeschichte des Schriftstellers Robert Olen But- ler zum Beispiel soll das spre- chende Tier eine andere Einsicht beleuchten als in der Fabel, die klassischerweise menschliche Schwächen wie Gier oder Faul- heit hervorkehren, verspotten und ihnen eine moralische Lehre entgegensetzen will. Ein Papa- gei stellt fest, dass er der wieder- geborene Ehemann der Frau ist, die den Vogel in einem Geschäft gekauft hat. Das Federvieh ist ein feinsinniger Denker: Als Tier im Käfig zu leben sei genauso frustrierend, wie ein Ehemann zu sein, der unter Eifersuchts- attacken leide, gesteht er sich ein. Eine Moral gibt es in der Ge- schichte nicht. Stattdessen wolle Butler das moderne Verhältnis zwischen Mensch und Tier in den Blickpunkt rücken: „Die Spezies stehen sich nicht diametral entge- gen. Ihre Unterschiede sind eher gradueller Natur“, sagt Alber. Autorinnen und Autoren des Unmöglichen greifen nicht nur auf etablierte Gattungen wie Schauerromane, Epen oder Tier- fabeln zurück, sondern treiben auch das Entstehen neuer lite- rarischer Genres voran: „Die un- natürlichen Spielereien spiegeln ihren historischen Kontext wider.“ In den so genannten Novels of Circulation etwa sind die Prota- gonisten keine Menschen, son- dern Münzen und Geldscheine. Die Kurzgeschichten tauchten im 18. Jahrhundert auf, just als der Kapitalismus begann, die Gesell- schaft grundlegend zu verändern. Der Science-Fiction-Roman ent- stand parallel zum Technik- und Futurismus-Boom des ausgehen- den 19. Jahrhunderts. „Auf ein- mal erscheint es Menschen denk- bar, Reisen in die Zukunft oder Vergangenheit zu unternehmen.“ Ob im Mittelalter oder in der Postmoderne: Besonders reiz- voll findet Alber die Manöver, die Autoren mit der Zeit veranstalten. Gerade die Zeit, die Menschen als geordnet und beherrschbar betrachten, stelle logische Prin- zipien und das eigene Selbstver- ständnis auf den Kopf, zum Bei- spiel, wenn sie rückwärts laufe. Der Anglist hat neun Strategien ausgearbeitet, die Lesern helfen sollen, sich solchen Texten zu nä- hern – eine Art Werkzeugkasten für das Nachdenken über Ereignis- se, die Naturgesetze aushebeln. Eine Herangehensweise ist, nach einem übergreifenden Thema zu suchen, das das unmögliche Sze- nario erklärt. Das babylonische Stimmengewirr etwa, das den Jun- gen Saleem heimsucht, „kann vor dem Hintergrund der Unruhen des postkolonialen Indiens das notwen- dige Verständnis zwischen den zer- worfenen Ethnien herstellen“. Eine andere Methode ist, das Unnatürliche als Allegorie zu ent- schlüsseln – ein Bild, das abstrakte Ideen und Gedanken veranschau- licht. Samuel Beckett zeigt zum Beispiel in dem Theaterstück „Play“ einen Mann, dessen Frau und Ge- liebte. Sie stecken Seite an Seite in drei lebensgroßen Urnen fest und sind dazu verdammt, ihre geschei- terte Beziehung in einer Endlos- schleife immer wieder zu erzählen. Das Stück kann im Prinzip niemals enden. Dieses Szenario könnte eine Allegorie auf ausweglose Lie- beskonstellationen sein: Die Men- schen lernten nicht aus ihren Feh- lern, sondern wiederholten sie im ewigen Kanon – ein fiktiver Fluch, der Lesern trotzdem realistisch er- scheint. Unmögliche und unlogische Welten sind beängstigend, doch sie haben einen Sinn, der weit übers Erschrecken hinausgeht Seite an Seite: Im Theaterstück „Play“ präsentiert der irische Schrift- steller Samuel Beckett einen Mann, der dazu verdammt ist, mit seiner Gattin und Geliebten die gescheiterte Dreiecksbeziehung ewig zu wiederholen. FOTO: AMERICAN CONSERVATORY THEATER/KEVIN BERNE Erzählen in der Endlosschleife