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uni'wissen 01-2013

‚‚Der schmerzhafte Widerspruch lähmt die Geistlichen, Gelehrten, Philosophen und Dichter nicht“ Die Sünde lauert an Kains Tür: „Nach dir steht ihr Verlangen, du aber herrsche über sie“, warnt Gott den ersten Sohn Adams und Evas, als dieser zornig auf seinen Bruder Abel ist. Wie die biblische Geschichte weitergeht, ist bekannt: Kain, der Ackerbauer, erschlägt seinen Bruder, einen Schafhirten, weil Gott diesen be­ vorzugt. Kain wird zum ersten Mörder der Menschheitsgeschichte, Abel zum ersten Opfer. Die Rollen sind klar verteilt. Oder doch nicht? Löst Gott nicht die Eifersucht zwischen den Geschwistern aus? Verursacht er nicht die Tragödie? Und beweist Kain nicht Mut, indem er sich gegen diese Willkür auflehnt? Wer gut und wer schlecht ist – alles eine Frage der Perspektive, findet Gabrielle Ober­ hänsli­Widmer. Die Freiburger Judaistikprofes­ sorin hat die Bilder des Bösen im Judentum erforscht. Der Baum der Erkenntnis, die Chaos­ ungeheuer Leviathan und Behemoth, der Bruder­ mörder Kain, die gefallenen Engel, der böse Trieb, das Feindbild Esau, die Opferung Isaaks: Anhand von sieben biblischen Figuren verfolgte die Judaistin, wie sich die Spielarten des Bösen in der jüdischen Geschichte von Jahrhundert zu Jahrhundert veränderten. „Die Deutung mancher Gestalten ändert sich um 180 Grad. Ächtet die eine Epoche jemanden als Erzbösewicht, ver­ ehrt die andere ihn als tragischen Helden.“ Kain sei dafür das beste Beispiel. Während die Gelehrten der Antike und Spätantike die Figur als blutrünstigen Brudermörder verurteilen, bringen ihr die Menschen in der Neuzeit und der Moderne mehr Sympathien entgegen. „Im Zuge der Aufklärung werden Religion und die Rolle Gottes zunehmend infrage gestellt. Der Mensch rückt als rational handelndes und selbst­ bestimmtes Individuum in den Mittelpunkt“, sagt Oberhänsli­Widmer. Der Dichter Lord Byron etwa, ein Stürmer und Dränger der englischen Romantik, feiert Kain in einem Theaterstück aus dem Jahr 1821 als eine Art Prometheus, der auf der Suche nach Wahrheit gegen einen selbst­ gerechten Gott kämpft. Mitte des 20. Jahrhun­ derts variieren jüdische Dichterinnen und Dichter, 33

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