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uni'wissen 01-2013

christlichen Jahrhunderts – einer Zeit, in der die jüdischen Weisen in Palästina besonders mit griechischem Denken konfrontiert waren. In jedem Menschen seien der gute und der böse Trieb verankert, besagt das Modell. Oberhänsli­ Widmer führt es auf Platons „Seelenwagen“ zurück: Der Philosoph sah den Menschen als Wagen­ lenker, der zwei Pferde zu bändigen habe – das böse Pferd der Begierde und das gute der Besonnenheit. „Die Rabbinen bedienten sich bei Platon und machten daraus ein erstaunlich rea­ listisches anthropologisches Modell“, sagt die Wissenschaftlerin. Sie spalteten das Böse von Gott ab. „Laut diesem Konzept ist es der Mensch, der die gegensätzlichen Mächte bezwingen kann.“ Vom rabbinischen Triebkonzept zu Freuds berühmter Triebtheorie: In der Konstellation von Es, Ich und Über­Ich, bei der der Mensch die Balance zwischen unterschiedlichen Kräften wahren muss, sieht Oberhänsli­Widmer eine ver­ längerte Denklinie – ein psychologisches Modell der Moderne, das freilich jeglicher Verweise auf Gott entbehrt. „Je säkularer das Zeitalter, desto mehr wird die Rolle Gottes getilgt. Was von Epoche zu Epoche gleich bleibt, sind die Denk­ figuren, die dann jeweils mit neuen Inhalten gefüllt werden.“ Prof. Dr. Gabrielle Ober- hänsli-Widmer hat fran­ zösische und hebräische Sprache und Literatur in Zürich/Schweiz, Florenz/ Italien, Avignon/Frankreich und in den schweizerischen Städten Lausanne und Luzern studiert. 1988 legte sie an der Universität Zürich ihre Doktorarbeit über die Totenklage im französischen und okzitanischen Hoch­ mittelalter vor. 1996 folgte dort die Habilitation zum Thema „Biblische Figuren in der rabbinischen Literatur". Nach einem Aufenthalt an der Hebräischen Universität Jerusalem/Israel folgten Stationen als Gastprofessorin in Jena und Bern/Schweiz. Seit 2004 hat Oberhänsli­ Widmer die Professur für Judaistik an der Universität Freiburg inne. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Wirkungs­ geschichte biblischer Motive und Figuren in rabbinischer und jüdischer Literatur so­ wie Übersetzungen moderner hebräischer und zeitgenös­ sischer israelischer Literatur. Foto: Thomas Kunz Zum Weiterlesen Oberhänsli­Widmer, G. (2013): Bilder vom Bösen im Judentum. Von der Hebräischen Bibel inspiriert, in jüdischer Literatur weiter­ gedacht. Neukirchen. Oberhänsli­Widmer, G. (2012): Leviathan und Behemoth. Archaische Chaosmächte als jüdi­ sche Bilder des Bösen. In: Ebner, M./Fischer, I./ Frey, J. u.a. (Hrsg.) (2012): Jahrbuch für Bibli­ sche Theologie. Das Böse (Band 26). Neukir­ chen, S. 259–290. Oberhänsli­Widmer, G. (2003): Hiob in jüdi­ scher Antike und Moderne. Die Wirkungs­ geschichte Hiobs in der jüdischen Literatur. Neukirchen. Das Böse, so lautet das Fazit der Forscherin, schaffe jedoch nicht nur Chaos und Zerstörung – es bewirke auch Positives, setze eine Dynamik in Gang: „Ohne einen bösen Trieb würde der Mensch nicht weiterkommen.“ Selbst dem ver­ fluchten Kain verdankt die Menschheitsgeschichte einige Errungenschaften: Nachdem er verbannt wurde, gründet er als erster Baumeister die Stadt Henoch, aus seiner Familie stammen die ersten Harfen­ und Flötenbauer und die ersten Erz­ und Eisenschmiede. Ein Brudermörder also, der die Zivilisation voranbringt. Die Beschäftigung mit dem Bösen hat auch bei der Judaistikprofessorin einen Tatendrang ausgelöst. Zurzeit arbeitet sie an einem neuen Buch über Figuren der Liebe: vom Hohelied, einem „erotischen Wurf“, zu dem die Rabbinen mit roten Wangen fromme Kommentare verfassten, bis zu den Gedichten Lea Goldbergs, einer israelischen Schriftstellerin aus dem 20. Jahrhundert, die in ihrer Lyrik Bilder der Liebe mit Bildern des Holocaust verknüpft. Gabrielle Ober­ hänsli­Widmer bewegt sich gerne zwischen thematischen Extremen – und dringt dabei ins Herz der jüdischen Theologie­, Kultur­ und Mentalitätsgeschichte vor. „Der ich Licht bilde und Finsternis schaffe“: Prakti­ zierende Juden sprechen den biblischen Vers Jesaja 45,7 im täglichen Gebet. Dass Gott nicht nur Gutes, sondern auch Böses hervorbringt, treibt jüdische Geistliche, Gelehrte und Denker an, in neuen Bahnen zu denken. Foto: Rafael Ben­Ari/Fotolia 35

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