Napoleon ist müde, sein Maultier auch. Ein Soldat führt die beiden durchs eisige Gebirge. Der frostige Wind peitscht ihnen ins Gesicht, auf dem steilen, schneebedeckten Pfad darf die Trup- pe keinen falschen Schritt machen. Der große Kriegsherr und Kaiser – auf einmal wirkt er gar nicht mehr so groß. Erschöpft blickt er aus dem Gemälde, sein Rücken ist gekrümmt, die Schultern sacken nieder. Sieht so ein Held aus? Bei dem französi- schen Künstler Paul Delaroche überschreitet Na- poleon die Alpen am Großen Sankt Bernhard als Mensch mit Mühen, nicht als Übermensch – im Gegensatz zu dem berühmten Propagandagemälde, das von Jacques-Louis David stammt: Der Historien- maler zeigt Napoleon in Übergröße – stark, stäh- lern, entschlossen. Der Schimmel wiehert vor Tatendrang, sein Reiter strafft die Zügel, weist mit dem Zeigefinger nach oben. „Es ist weniger wichtig, was Napoleon selbst sagt, sondern wie über ihn gesprochen wird“ Tatsache ist: Im Mai 1800 überquerte Napole- on auf seinem zweiten Italienfeldzug mit seinem Heer das größte Gebirge Europas und besiegte in der Schlacht bei Marengo die Österreicher. Wie kommt es, dass zwei Maler dasselbe Ereig- nis so unterschiedlich in Szene setzen? Welches Bild wird dem legendären Herrscher gerecht? Es komme nicht allein auf das Ereignis an, sondern darauf, wer zu welchem Zeitpunkt welche Bot- schaft senden wolle, betonen Prof. Dr. Jörn Leon- hard und sein Mitarbeiter Benjamin Marquart, Historiker im Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen. Transforma- tionen und Konjunkturen von der Antike bis zur Moderne“. Das auf zwölf Jahre angelegte Projekt vereint Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft- ler aus verschiedenen Disziplinen. Sie beschäfti- gen sich mit Herrschern und Heiligen, Göttern und Halbgöttern, Arbeitern, Soldaten, Bürgern und Politikern. Sie wollen herausfinden, wann, wie und warum eine Gesellschaft Heldinnen und Helden hervorbringt und welche Funktion diese in ihrem sozialen und kulturellen Umfeld erfüllen. Denn eins steht fest: Ein Held wird nicht geboren, ein Held wird gemacht, und über ihn muss geredet, geschrieben und gestritten werden. Genie, großer Mann und mehr Die beiden Historiker untersuchen den so ge- nannten Bonapartismus als eine politische Helden- erzählung des 19. Jahrhunderts in Deutschland, Frankreich und Großbritannien. „Ein ziemlich diffuses Phänomen“, geben sie zu. Nicht einmal die Zeitgenossen waren sich darüber einig, was unter dem Wort zu fassen sei. „Die meisten Defi- nitionen laufen darauf hinaus, dass es sich um ein politisches Programm handelt“, sagt Marquart, „welcher Couleur auch immer das geartet war.“ Entscheidend ist jedoch, dass die Forscher aus dem traditionellen Verständnis des Begriffs und der Figur Napoleons ausbrechen wollen. „Es ist weniger wichtig, was Napoleon selbst sagt, sondern wie über ihn gesprochen wird“, betont Ein Ereignis, zwei Bilder: Der Künstler Paul Delaroche zeigt Napoleon beim Überqueren der Alpen im Mai 1800 nicht als Übermensch, sondern als Mensch mit Mühen (links). Der französische Historienmaler Jacques-Louis David dagegen stilisiert den Kaiser als entschlossenen Helden in Übergröße (rechts). Quelle: beide Wikimedia Commons 17