Eine öffentliche Diskussion und kritische Aus- einandersetzung mit der maoistischen Ära und ihren Folgen ist in China bis heute kaum möglich. Auch außerhalb des Landes gibt es bislang so gut wie keine Forschung zu diesem Thema. Leese betritt mit seinem Projekt also Neuland. Während Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ande- ren historischen Kontexten, in denen ein Regime gestürzt wurde, Zugang zu Archiven bekamen, etwa nach dem Ende der Apartheid in Südafrika oder der Diktatur Augusto Pinochets in Chile, ge- währt die KPCh keinen Einblick in ihre Akten. Um überhaupt forschen zu können, geht Leese des- halb ungewöhnliche Wege: Seit mehr als 15 Jahren durchforstet er regelmäßig Antiquariate, Samm- lungen und Flohmärkte in China nach Dokumenten, die aus aufgelösten Archiven von Gerichten oder Arbeitseinheiten stammen. „In den späten 1990er und frühen 2000er Jahren war die chinesische Regierung etwas nachlässiger. Damals gelangte häufig Material auf den Markt, das als nicht mehr wichtig erachtet wurde“, sagt der Sinologe. Rund 6.000 Dokumente hat Leese auf diese Weise bereits zusammengestellt. Den Grundstock bildeten parteiinterne Anweisungen, in denen dargelegt ist, wie Gerichte oder Parteikomitees die Urteile der Kulturrevolution neu verhandeln sollten. Diese Direktiven basierten oft auf Beispiel- fällen, die in Handbüchern erschienen sind. Die allgemeine Linie sei dabei gewesen, die Gründe für die Fehlurteile in individuellem Missverste- hen der politischen Realität zu suchen, wie der Fall Wang deutlich macht. Die Schuld am Un- recht wurde öffentlich pauschal der so genannten Viererbande um Maos Frau Jiang Qing angehängt, einer Gruppe von Führungskräften, die während der Kulturrevolution große Macht ausübte. Intern gab die Partei durchaus Untersuchungen in Auf- trag, um Schuldfragen zu klären, was allerdings selten an die Öffentlichkeit gelangte. Mithilfe von Fallstudien erforschen Leese und sein Team den strafrechtlichen Umgang mit zu Unrecht Verurteilten. Zudem wollen die Forsche- rinnen und Forscher anhand der Städte Peking und Shanghai sowie der Provinz Jiangsu und der Autonomen Region Guangxi zeigen, wie unter- schiedlich Gerichte die Fallrevisionen in Abhän- gigkeit von lokalen politischen Konstellationen umsetzten. Neben den Prozessakten ziehen die Wissenschaftler Zeitzeugenaussagen, statistische Daten aus Regionalchroniken und offizielle Partei- veröffentlichungen als Quellen heran. Es sind persönliche Schicksale wie das der einfachen „Mir ist wichtig zu zeigen, dass es in China damals nicht nur eine konforme Masse gab“ Während der Kulturrevolution enteignete die Kommunistische Partei Chinas vermeintliche Kapitalisten, denen versteckter Reichtum unterstellt wurde. Nach dem Tod Maos wurden die Güter teilweise zurückerstattet. Quelle: Institut für Sinologie/Universität Freiburg Eine handgeschriebene gerichtliche Personenakte: Offiziellen Zugang zu Archiven gewährt die Regierung Chinas bis heute nicht. Foto: Thomas Kunz 30