Die weiße Tafel zeigt die Umrisse von Europa und darin viele rote Punkte – besonders dort, wo Deutschland, die französische Grenzregion und die skandinavischen Länder liegen. Prof. Dr. Joachim Grage hat auf dieser Tafel in seinem Büro im Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) alle europäischen Universitäten einge- zeichnet, in denen sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein wachsendes Interesse an nordi- schen Sprachen und Literaturen herausbildete. Es ist der geographische Aspekt, der ihn interes- siert. Denn die Bilder des Nordens, die die Wis- senschaft produziert, sind nicht einheitlich. „Die Wissensproduktion ist an konkrete Orte gebun- den“, sagt der Professor für Nordgermanische Philologie an der Universität Freiburg. „In be- stimmten Kontexten werden die jeweils passen- den Norden-Bilder aktualisiert.“ Wissenschaftliche Netzwerke, Traditionen, Zeitgeist, Nationalität und politische Interessen spielen dabei eine Rolle. Ein Ziel der Albert-Ludwigs-Universität ist es, am Oberrhein einen European Campus entstehen zu lassen, um die geographische Lage für die ge- meinsame Wissensproduktion zu nutzen. Für Grage ist dieser Campus längst Wirklichkeit: Mit Dr. Thomas Mohnike, Leiter des Instituts für Skandinavienstudien an der Université de Strasbourg, bildet er ein Tandem, das sich dem gemeinsamen Forschungsprojekt „Building the North with Words. Geographies of Scientific Knowledge in European Philologies 1850–1950“ verschrieben hat. Den Raum dafür bie- ten ihnen das FRIAS und dessen nach Freiburger Vorbild entstandenes Pendant, das University of Strasbourg Institute of Advanced Studies (USIAS). Grage und Mohnike sind Fellows beider Exzellenz- institute. Schon davor haben sie lange zusammen- gearbeitet – und sich gegenseitig die Bälle der Erkenntnis zugeworfen. Motive der Propaganda Es gab Zeiten, da wäre so etwas in ihren Fach- gebieten undenkbar gewesen. Gerade Strasbourg mit seiner wechselnden nationalen und ideologi- schen Zugehörigkeit verdeutlicht bestens, worauf es den beiden ankommt: „Je nachdem, ob die Uni- versität zu Frankreich oder Deutschland gehörte, wechselte die Besetzung der Lehrstühle und da- mit das Bild des Nordens, das sie vermittelte“, sagt Mohnike und präsentiert einen Bilderbogen von 1915 aus dem lothringischen Épinal: Dieser zeigt den martialisch auftretenden germanischen Gott Thor, mit Schwert und Lanze behängt und ei- nen gigantischen Hammer schwingend, mit dem er die gotische Kathedrale zu seinen Füßen zer- trümmert. Als „die barbarischste unter den alten Gottheiten Germaniens“ wird er vorgestellt. Die Propaganda ist unverkennbar: In den Auseinan- dersetzungen zwischen Frankreich und Deutsch- land im Ersten Weltkrieg steht der zivilisierte Süden – die gotische Kathedrale, also Frankreich – dem hammerschwingenden, zerstörerischen Thor gegenüber, einem Repräsentanten des Nordens, der im wilden Germanien angesiedelt wird. Die mittelalterlichen isländischen Handschrif- ten der beiden „Eddas“, die von Göttern und Hel- den erzählen und zu den am besten erhaltenen Quellen der so genannten germanischen Mytholo- gie gehören, dienten als Grundlage, um zu erklä- ren, was eigentlich das Germanische – im Unterschied zum Gallischen oder Keltischen – ausmache. Der Bilderbogen von Épinal griff auf diese Quellen und Vorstellungen zurück. Sie wur- den benutzt, um unter anderem in der elsässi- schen Bevölkerung eine nationale Identität zu formen und die Zugehörigkeit zu Frankreich fest im Bewusstsein zu verankern. „Das generell gülti- „Die Wissensproduktion ist an konkrete Orte gebunden“ Henrik Ibsen, die nordische Sphinx: Der norwegische Dramatiker galt in den Literatur- wissenschaften als mythische Figur. Quelle: Bayerische Staatsbibliothek München, Signatur: L.eleg.g. 100 u 9uni wissen 01 2015 9uni wissen 012015