oft nur aus zwei Blickwinkeln: Entweder sind die Leute an ihrer Misere selber schuld, weil sie nicht emsig genug geschuftet haben. Oder sie sind vom Pech verfolgt und haben nie die Chance be- kommen, sich ein gutes Leben zu erwirtschaften. „Diese beschränkte Sichtweise macht Armut nicht nur zu einem ökonomischen Problem, sondern auch zu einem Thema der Kulturwissenschaft.“ Für Lemke greift die Entweder-oder-Schablone zu kurz. Sie hat ein mehrschichtiges Konzept von Ungleichheit herausgearbeitet, für das sie Ansätze aus Literatur- und Kulturwissenschaft, Soziologie, Politik- und Wirtschaftswissenschaft, Medienkulturwissenschaft und der noch recht neuen Prekarisierungsforschung kombiniert. „Will man Armut verstehen, muss man immer Katego- rien wie Alter, Geschlecht, Ethnie und Region einbeziehen.“ Ikone des Elends Die Forscherin wollte wissen, wie prekäre Le- bensverhältnisse in der Gegenwart gezeigt werden: Bedienen Bilder alte Klischees vom romantisierten Bettler? Warum berühren manche Porträts die Betrachterinnen und Betrachter, und wieso las- sen andere sie kalt? Ein herausragendes Bei- spiel sieht sie in Dorothea Langes Aufnahme „Migrant Mother“ von 1936 – für Lemke „eine Iko- ne des Elends“: millionenfach reproduziert, in je- dem High-School-Buch abgebildet, Symbol der Verzweiflung in den Jahren nach der Großen De- pression. Das Schwarz-Weiß-Foto zeigt eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern, die ihre Ge- sichter in den Schultern ihrer Mutter vergraben. Die Haut der Frau ist gegerbt, ihre Stirn in tiefe Falten gelegt, in ihrem Blick steckt Sorge. Ein Stück Zeltplane im Hintergrund verrät, dass die Familie obdachlos ist. Und doch sei da noch etwas anderes: „Die Frau ist sowohl verzweifelt als auch stark und wi- derstandsfähig. Ihre Armhaltung zeigt, dass sie arbeiten kann. Ihr Blick ist nach vorne gerichtet und signalisiert Optimismus.“ Solche Bilder und Texte, die bei den Menschen eine Spannung auslösten, weil sie darin eine doppelte Botschaft spürten, würden den „prekären Blick“ ermöglichen, sagt die Forscherin – „prekär“ im Sinne des latei- nischen Begriffs „precarius“, also unsicher, un- beständig oder bittend. „Das Bild fordert eine Anteilnahme ein, wie es jedes Dokumentarbild versucht, tut dies aber auf eine riskante und raf- finierte Weise.“ Diese Möglichkeit, mit einem Kunstwerk in ei- nen Dialog zu treten, würde die Betrachtenden oder Lesenden länger in Beschlag nehmen. Im Gegensatz dazu seien Bilder, die nur Klischees bedienten, reine Aufmerksamkeitskiller: „Wenn wir ein afrikanisches Kind mit Wasserbauch se- hen, das seine Hand bettelnd ausstreckt, erfas- sen wir in einer Sekunde: Das ist Armut, das ist schlimm, und sehen nicht mehr hin.“ Wisse der Betrachter allerdings nicht, was er vor Augen habe, könne ein Leser einen Text nicht gleich ei- ner Kategorie zuordnen, erhöhe das seine Auf- merksamkeitsspanne. „Das ist das Privileg der Kunst: Sie erlaubt es uns, Bereiche auszuloten, Die Scherben des „American Dream“: Camp Hope, eine von mehr als 100 Zeltstädten in den USA, beherbergt Menschen, die obdachlos ge- worden sind, zum Beispiel nach der letzten Finanzkrise. Foto: Sieglinde Lemke 10 uni wissen 02 2015 10 uni wissen 022015