Die Hitze zieht flirrende Schlieren durch die Luft. Aus der Ferne scheint es, als würden sich kleine, glänzende Hügel aneinanderreihen. Eine Kette aus Blau, Grau und zerknautschten Plastikplanen: Die 65 Zelte sehen alle gleich aus. Am Rand stehen mobile Toilettenkabinen, irgend- wo auf dem Gelände befinden sich zwei Duschen, aus denen nur Kaltwasser tropft. Links und rechts rattern Güterzüge, darüber ein Zickzack von ab- hebenden und landenden Flugzeugen, die ein unaufhörliches Brummen verursachen. Die Zeltstadt in der US-amerikanischen Stadt Ontario, 50 Kilometer östlich von der Metropole Los Angeles, ist von einem zwei Meter hohen Zaun umgeben. Über dem Eingangstor hängt ein Warnschild: „Der Eintritt ist nur befugten Perso- nen gestattet. Die Bewohner können Kriminelle, Vergewaltiger oder mit Krankheiten Infizierte sein.“ Als Prof. Dr. Sieglinde Lemke vor „Camp Hope“ steht, fragt sie sich, wo an diesem Ort wohl die Hoffnung waltet. Kein Geld, keine Aussicht auf Aushilfsjobs, keine sozialen Kontakte: Für die Bewohnerinnen und Bewohner der Zeltstadt sind der „amerikanische Traum“ und das „Anrecht auf Glück“, die Grundfesten des US-Selbstverständ- nisses, zu einer Worthülse verkommen. „Spätes- tens seit der letzten Finanzkrise gilt das auch für die Mehrheit der Bevölkerung“, sagt Lemke. Die Freiburger Amerikanistin reist 2009 nach Los Angeles, um an der University of California für ihr Buch über Armut in der US-amerikani- schen Gegenwartskultur zu forschen. Sie will un- tersuchen, wie Medien, Kunst, Literatur und Politik Ungleichheit verhandeln und zeigen. Ei- gentlich stehen nur Recherchen in der Bibliothek auf ihrem Programm, doch eines Tages be- schließt sie, zum „Camp Hope“ zu fahren, das die Stadt 2008 errichtet hatte, um die Obdachlo- sen von den Straßen zu holen. In den vergange- nen zehn Jahren sind solche Zeltstädte in den USA wie Pilze aus dem Boden geschossen – mehr als 100 gibt es mittlerweile im ganzen Land. „Das Camp fühlte sich wie ein Käfig an, eine Mischung aus Zeltplatz und Internierungs- lager“, erinnert sich die Forscherin. Sie interviewt Leute, spricht mit den Wärtern, Freiwilligen, die Essen verteilen, und mit den Bewohnern des Areals. Lemkes Begegnungen fließen zwar nicht direkt in ihr Buch ein, aber sie bezeichnet sie als Motor für ihren kulturwissenschaftlichen Beitrag zur aktuellen Debatte über Ungleichheit. „In den Lebensgeschichten der Menschen spie- gelt sich das gängige Erklärungsmodell zu den Ursachen der Armut wider“, sagt die Amerikanistin. „Das Individuum sucht die Schuld für das eigene Scheitern bei sich selbst und verkennt die über- gelagerten, sozioökonomischen und politischen Strukturen, die über Jahrzehnte zur Massenar- mut in den USA beigetragen haben.“ So erklärt eine Obdachlose im Camp, sie sei „down on her luck“, also von ihrem Glück verlassen; ein Mann arbeitete sein Leben lang in einer Fabrik, bis er einfach „let go“, gehen gelassen, wurde; ein an- derer bedauert sich als „not blessed with many opportunities“, nicht mit vielen Chancen gesegnet. Diese Beschönigungen zeigten, dass es für das Phänomen der Armut im Englischen keine deut- liche Sprache gebe, sagt Lemke. Misere in der Gesellschaftsmitte Sechs Jahre später: Die Amerikanistin ist ge- rade dabei, die letzten Seiten ihres Buchs fertig- zuschreiben, das 2016 erscheinen soll. Das Thema Armut ist in der Kulturwissenschaft bis- lang ein Tabu gewesen: „Über Jahrzehnte haben die meisten Forscherinnen und Forscher die Ka- tegorie ‚Klasse‘ gemieden. Sich damit auseinan- derzusetzen bedeutete, sich mit künstlerisch nicht wertvoller Literatur zu beschäftigen oder gar als Marxistin in Verruf zu geraten.“ Vor dieser Leerstelle schreckt Lemke nicht zu- rück: Sie analysiert unter anderem Romane, Fil- me, Comics, politische Reden, Fotografien und Artikel aus Zeitungen, Blogs, YouTube-Videos und sozialwissenschaftliche Studien. Ihre Ergeb- nisse zeigen, dass Ungleichheit mittlerweile nicht nur die Menschen an den Rändern der Gesell- schaft betrifft, sondern in deren Mitte angekom- men ist. Jedoch porträtieren die Medien Armut „Will man Armut verstehen, muss man immer Kategorien wie Alter, Geschlecht, Ethnie und Region einbeziehen“ Heimatlose Mutter: Dorothea Langes Foto „Migrant Mother“ gilt als Symbol für die Armut in den Jahren nach der Großen Depression. Das Porträt demonstriert jedoch nicht nur Elend, sondern auch Optimismus und Entschlossenheit. Foto: Library of Congress, Prints & Photographs Division, FSA/OWI Collection, LC-USF34-9058-C 9uni wissen 02 2015 9uni wissen 022015